Gillian Shields - Die Schwestern der Dunkelheit - 02
bemerkte ich, dass Miss Raglan noch immer in ihrem geschnitzten Stuhl auf der erhöhten Plattform saß und sich langsam die Hände rieb.
»Ich habe diese Anweisung gegeben«, sagte sie, stand auf und trat zu uns. »Ihr seid ab sofort von dieser Pflicht entbunden.«
»Aber Sie haben gesagt, dass es keine Veränderungen geben würde«, erwiderte Helen. Ich war überrascht. Sie schwieg gewöhnlich gegenüber den Mistressen. »Mrs. Hartle hat uns immer aufgetragen, die Tabletts fertigzumachen. Sie haben gesagt, dass alles so bleiben würde, wie es war.«
»Ich habe mich nicht auf derart banale Dinge bezogen. «
»Ich glaube nicht, dass man Mrs. Hartles Wünsche als banal einstufen sollte.«
»Was? Willst du meine Autorität in Frage stellen?«
»Natürlich nicht«, antwortete Helen. »Sie sind jetzt die Oberste Mistress, nicht wahr?«
Sie starrte Miss Raglan furchtlos an, hielt dem Blick der älteren Frau stand, bis Miss Raglan zu wanken schien und zurückwich.
»Ich … ich bin die Vertreterin der Obersten Mistress, das ist alles. Natürlich hoffen wir, dass Mrs. Hartle schon in Kürze zu uns zurückkehren wird. Natürlich. Also dann, macht weiter.«
Miss Raglan stapfte davon; sie erinnerte mich an einen geprügelten Hund. Ich sah Helen verwundert an. »Was sollte das denn?«
»Ich weiß es nicht.« Sie zuckte mit den Schultern. »Ich hatte nur das Gefühl, dass ich sie irgendwie herausfordern sollte. Tut mir leid, ich vermute, wir sollten nicht die Aufmerksamkeit auf uns ziehen.« Sie sah nach unten und begann, einen Löffel zu polieren, dann seufzte sie schwer. »Vielleicht liegt es nur an mir, aber ich fühle mich so gebunden. Wir müssen vorsichtig sein, Evie. Ich habe das Gefühl, als würden sie an allen Seiten kauern, zusehen und warten …«
»Worauf warten?«
Helen seufzte wieder. »Darauf, dass wir einen Fehler machen.«
Acht
Aus den persönlichen Unterlagen
von Sebastian James Fairfax
Wartend – wartend – wartend –
Auf das Ende wartend.
Ich habe aufgehört, die Nächte zu zählen, seit ich dich das letzte Mal gesehen habe. Aber diese Nacht fühlt sich anders an. Etwas wird geschehen. Etwas hat sich ver─ ändert.
Dieser Ort ist so kalt wie der Tod. Meine Glieder schmerzen, und mein Atem verwandelt sich in Wolken aus Eis. Es muss Winter sein, dort draußen in der Welt, in der noch Jahreszeiten existieren. Als ich ein Junge war, habe ich mich nach dem ersten Schnee gesehnt, als wäre er ein Wunder …
Etwas geschieht. Die Stille dieses Ortes wird durch─ brochen vom Geräusch des Meeres, das an ein fernes Ufer brandet. Ich spüre in meinem Herzen, wie die Wellen sich brechen und an den Strand schlagen. Ich spüre, dass du nahe bist.
Bist du zurückgekehrt, mein Liebling? Hast du alles riskiert, um in das Tal der Geheimnisse zurückzukehren?
Ich werde auf dich warten.
Diese Nacht fühlt sich anders an.
Eine Kraft ist nach Wyldcliffe zurückgekehrt, eine Kraft, die vor Leben pulsiert wie die Sonne. Die Luft ist lebendiger. Alles sieht zu und wartet …
Ich warte auf dich. Denkst du noch an mich?
Was wird dein nächster Schritt sein, Evie? Hoffst du immer noch auf ein Wunder? Träumst du immer noch davon, dass Agnes, die sanfte Heilerin, ihre Hand über das große Nichts hinweg ausstrecken wird, um mich mit ihren Gaben zu berühren? Ich habe ihre Hilfe vor so langer Zeit abgewiesen, und ich fürchte, sie kann mir jetzt nicht mehr helfen. Aber es gibt Wunder. Die Luft. Die Dunkelheit. Der Schnee, der überall um dieses schlafen─ de Haus liegt. Die Sterne dort oben. Wie zutiefst geheimnisvoll das alles ist! Nicht nur die seltsamen Pfade, die wir gegangen sind, sondern auch die gewöhnlichen Dinge, die ich für so selbstverständlich gehalten habe. Die Erde unter meinen Füßen. Jedes einzelne Lebewesen; jeder Baum, jeder Vogel, jedes Kind. Jede kostbare See─ le …
Das alles sind Geheimnisse. Wir sind umgeben von Geheimnissen.
Du bist mein Wunder.
Und so werde ich warten. Ich werde hoffen. Hier, in der Dunkelheit, werde ich meinen Blick dem Sonnen─ aufgang entgegenheben.
Ich werde auf dich warten.
Neun
I ch wartete.
Tick . . . Tack . . . Tick ...
Der kleine Wecker auf dem Tisch neben meinem Bett zählte die Minuten, und das eintönige metallische Ticken verlockte mich, die Augen zu schließen. Ich war daran gewöhnt. Im vergangenen Term hatte ich Nacht für Nacht in diesem schmalen weißen Bett gelegen und darauf gewartet, das gleichmäßige Atmen von Celeste
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