Gillian Shields - Die Schwestern der Dunkelheit - 02
und Sophie zu hören, wenn sie eingeschlafen waren. Ich wusste, wie India manchmal murmelte, wenn sie sich im Bett umdrehte, und wie Helen steif auf dem Rücken lag, an die Decke starrte, bis ihre Augen zu schwer wurden, als dass sie noch länger hätte wach bleiben können. Ich kannte jedes Quietschen der Dielen in diesem kahlen, weißen Raum. Nacht für Nacht war ich aus dem Schlafsaal geschlüpft und die alte Dienstbotentreppe hinuntergeschlichen, um heimlich Sebastian zu treffen. Und heute Nacht würde er vielleicht wieder auf mich warten. Vielleicht war das Wunder geschehen.
Tick . . . Tack . . . Tick ...
Als ich das Gefühl hatte, dass alle im Zimmer schliefen, tastete ich mit den Füßen nach meinen Schuhen, zog meinen Mantel an und schlich mich nach draußen. Ich
wartete nicht auf Helen. Sie würde auf ihre eigene Weise zu unserem Treffen mit Sarah kommen.
Ich glitt den stillen Korridor entlang und schlüpfte durch die von einem Vorhang verdeckte Tür, die zu der alten Hintertreppe führte. Als ich die Tür hinter mir schloss, wurde ich in tiefste Schwärze gestoßen. Ich war vollkommen vom Rest der Schule abgeschlossen, und einen Moment lang spürte ich Panik in mir aufsteigen. Ich hatte dummerweise schon immer Angst vor der Dunkelheit gehabt, Angst davor, an einem lichtlosen, engen Ort gefangen zu sein und dort zu ersticken. Ich griff nach der kleinen Taschenlampe, die ich eingesteckt hatte, und machte sie an. So war es besser. Atme, Evie, vergiss nicht zu atmen ... Der kleine Lichtstrahl fiel auf die staubigen alten Treppenstufen, die damals, als Agnes auf Wyldcliffe gelebt hatte, von den Bediensteten benutzt worden waren. Heutzutage war es eigentlich verboten, diesen Teil des Gebäudes zu betreten, aber das kümmerte mich nicht. An diese Art Regeln hielt ich mich schon längst nicht mehr. Ich umklammerte meine Taschenlampe und ging auf Zehenspitzen die Treppe hinunter. Ich würde mich nicht von irgendwelchen kindischen Ängsten aufhalten lassen.
Zweiunddreißig , dreiunddreißig , vierunddreißig ... fünfundfünfzig, sechsundfünfzig ... Ich zählte die Stufen, bis ich unten angekommen war. Auf der einen Seite führte eine Tür zum Hauptteil der Schule. In der anderen Richtung führte ein muffiger Gang zum alten Flügel der Bediensteten, einem Gewirr aus zerfallenden Lagerräumen und Vorratskammern. Ich zwang mich, in die eisige Schwärze zu gehen, vorbei an einer Reihe vor sich hin
rostender Dienstbotenglocken, vorbei auch an den Wänden, in denen Mäuse raschelten. Schließlich erreichte ich eine verblasste grüne Tür, die nach draußen zu den Ställen führte. Ich zog den Riegel zurück und trat ins Freie.
Die Pflastersteine des Stallhofes glänzten vom Frost, und der Himmel schien hoch und klar und weit weg zu sein. Eine dünne Wolke zog vor dem Mond vorbei, wie eine Spur aus silbrigem Rauch. Ich blieb einen Augenblick stehen und dachte darüber nach, wie ungeheuer geheimnisvoll das alles war. Nicht nur die seltsamen Wege, die Sebastian mich entlanggeführt hatte, sondern auch die gewöhnlicheren Dinge, die wir alle für so selbstverständlich halten. Die Sterne über uns. Die Erde unter unseren Füßen. Menschen. Freundschaft. Liebe. Das alles waren machtvolle und gefährliche Geheimnisse – besonders die Liebe.
Ich musste mich beeilen.
Ich überquerte den Hof und lief leichtfüßig die eiskalten Wege entlang und über die schneebedeckten Wiesen. Wenige Minuten später erreichte ich den Rand eines großen Sees, dessen Wasser so schwarz wie der Himmel war. Direkt beim See befand sich die berühmte Ruine von Wyldcliffes uralter Kapelle, die sich wie ein gespenstisches Schiff in die Höhe reckte. Ich blieb stehen; meine Beine zitterten plötzlich, und mein Herz schlug heftig.
Hier hatten im Mittelalter die Nonnen gebetet; hier hatte Agnes sterbend auf dem kalten Boden gelegen. Und hier war es gewesen, wo Sebastian und ich uns heimlich unter den Sternen des Nordhimmels getroffen hatten. Hier hatten wir geredet und gelacht und gestritten und
uns wieder vertragen. Hier hatten wir uns auch zum ersten Mal geküsst . . .
Die Wirklichkeit traf mich mit voller Wucht. Sebastian war nicht in der Ruine, er wartete nicht in dem halb zerfallenen Gemäuer auf mich. Es würde keine schnelle Lösung geben, kein märchenhaftes Happy-End. Wenn Sebastian das Wunder nicht bewirken konnte, würde ich es selbst tun müssen.
Aber ich konnte es nicht allein schaffen. Ich brauchte den Talisman und meine Schwestern
Weitere Kostenlose Bücher