Gillian Shields - Die Schwestern der Dunkelheit - 02
und verblassten. Ich war in einem einfachen Holzgebäude, das kaum mehr als ein Unterstand war. Ein Kleinkind lag in einen groben Wollumhang eingewickelt auf dem strohbedeckten Boden; sein Gesicht war grau vor Schmerz. Die Mutter des Jungen hielt seine Hand und versuchte, nicht zu weinen. Eine andere Frau, die ein silbernes Amulett um den Hals trug und einen Schleier über den Haaren, kümmerte sich um das Kind. Sie wischte dem Jungen das Gesicht ab und flößte ihm eine bitter wirkende Medizin ein, während sie ein paar geheime Gebete sprach. Der Schmerz des Jungen schien gelindert, und gleich darauf schlief er tief und fest. Die Frau mit dem Amulett drehte sich zu mir um, und obwohl ihr Gesicht von dem Schleier halb verborgen war, sah ich glühende Intelligenz und Mitgefühl in ihren Augen lodern. Eine Heilerin, eine weise Frau … eine heilige Schwester.
Miss Scrattons barsche Stimme riss mich in die Gegenwart zurück. »Genau wie die Nonnen von Wyldcliffe wurden diese weisen Frauen als Lehrerinnen und heilige Schwestern hoch geachtet …«
»Nein!«, schrie ich, ehe ich es verhindern konnte. Wie konnte sie es nur wagen, über Schwesternschaft zu reden, wo sie doch jedes Ideal von Lernen und Liebe und Loyalität verraten hatte?
»Stimmt etwas nicht, Evie?«, fragte Miss Scratton und sah mich an. »Bist du nicht meiner Meinung?«
»Ich … es tut mir leid«, stammelte ich und versuchte, meine Verwirrung zu verbergen. Ich überlegte fieberhaft, was ich sagen könnte. »Es ist nur, dass … ähm … in meiner
alten Schule haben die Lehrer gesagt, dass die Frauen damals nicht wichtig gewesen sind. Sie haben einfach nur Kinder bekommen und gekocht und so weiter.«
»Und ist es etwa nicht wichtig, Kinder zu bekommen und für eine Familie zu sorgen? Aber wie auch immer, ich glaube, wenn du genauer hinsiehst, wirst du feststellen, dass Frauen immer sehr viel mehr getan haben. Oh ja, Frauen haben immer große Macht gehabt«, fügte sie leise hinzu, »auch wenn sie zum größten Teil unsichtbar war.«
Unsichtbare Macht … die große Schwesternschaft … der Mystische Weg … Mir wurde ganz schwindlig, als sie mir so unerbittlich in die Augen starrte.
»Aber diese interessante Diskussion müssen wir auf einen anderen Zeitpunkt verschieben.« Sie schien das Interesse an mir zu verlieren und wandte sich abrupt ab. »Ich möchte, dass ihr jetzt das Quellenmaterial auf Seite zweiunddreißig im Buch lest und dann über einen schriftlichen Bericht nachdenkt.«
Mein Kopf fühlte sich an, als wollte er bersten. Was hatte ich gerade gesehen? War da irgendein Hinweis in der Vision? Vielleicht musste ich mich mit den Frauen der dunklen, unbekannten Vergangenheit verbinden; vielleicht verfügten sie über irgendein uraltes Wissen, das Sebastian helfen könnte? Vielleicht musste er die Kräutermischung trinken, so wie der Junge. Aber wie sollte das alles mit dem Feuerzeichen zusammenhängen? Wenn ich nur wüsste, was das alles zu bedeuten hatte!
Ich beugte mich über meine Bücher und tat so, als würde ich an meiner Arbeit sitzen, aber in Wirklichkeit schrieb ich alles auf, was möglicherweise zu der Antwort
führen konnte, die ich brauchte: Feuer – Hitze – Flamme. Rot – rote Rose? Rubin? Ein Rubinring. Rot – das Zeichen für Blut. Heilsalben – ins Buch sehen. Blut reinigen? Mohnblumen. Karmesinrot. Scharlachrot. Feuer. Ein Merkmal. Ein Zeichen der Liebe. FEUER.
Denk nach, Evie, denk nach, sagte ich zu mir, aber mein Geist war leer, so leer wie die traurigen Hügel und der graue, graue Himmel.
Fünfunddreißig
Aus den persönlichen Unterlagen
von Sebastian James Fairfax
Eine Erinnerung rührt sich in der Dunkelheit.
Wir ritten unter dem grauen Himmel dahin, nicht weit von hier. Galoppierten wie Donner, lachten, während wir durch das Tal rasten. Wir ritten, um zu entkommen. Wir ritten, um zu vergessen.
Meine Brüder waren bei mir.
Die Fairfaxes sind tot und vergangen, und ich war das einzige Kind meiner Eltern. Aber sie baten mich, sie Brüder zu nennen …
Meine Erinnerungen verklingen alle, bis auf diese. Schmerz – der Schmerz verzehrt mich. Ich ertrinke in Schmerz und Feuer.
Ich muss die Erinnerung festhalten. Ich darf sie nicht loslassen. Ich muss kämpfen. Muss für Evie kämpfen …
Ich bin so allein.
Vor langer Zeit hatte ich meine Brüder.
Wir waren alle zusammen unterwegs gewesen, Niko und Stefan und Tamas und all die anderen. Ihre kräftigen Pferde. Ihre hübschen Frauen.
Wieso kommen
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