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Ginster (German Edition)

Ginster (German Edition)

Titel: Ginster (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Siegfried Kracauer
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Alltagsüberzieher geborgen durch die Straßen zu schlendern. Den Mantel hatte Ginster des fremderen Aussehens wegen lose über die Schulter gehängt. Auf dem Heimweg machte er vor Freude einen kleinen Luftsprung im Schnee; als habe er eine unmögliche Aufgabe zur Zufriedenheit der Vorgesetzten gelöst.
    Sie lebten in jenem Winter zu dritt, und auch Ginster wurde der Geheimsprache mächtig. Eines Nachts, nach einem Faschingsfest – es war das letzte der Saison – brachten er und Schilling Mimi nach Hause. Sie kramte die Schlüssel hervor. »Wenn ihr mich nach oben begleitet, koche ich uns Kakao.« Man mußte leise machen, um nicht die Mitbewohner zu wecken. Es war gegen vier Uhr, noch dunkel, ein Kerzenstumpf wurde angezündet. Schilling bewährte sich als Kochgehilfe, er half auch besser als Ginster in Mäntel. Mußte er einige Tage verreisen, so wurde er nach der Rückkunft automatisch in sämtliche Ereignisse eingeweiht, die sich mittlerweile abgespielt hatten; während Ginster stets mit unbekannten Größen zu rechnen hatte, wenn er für kürzere Zeit abwesend war. Die Chaiselongue reichte für drei. Rechts von Mimi streckte sich Schilling nach der Wand zu aus, an der Außenseite lag Ginster. Mimi faßte ihn bei der Hand oder fuhr ihm ab und zu über die Haare – Vertraulichkeiten, die von ihm entschlossen erwidert wurden. Die Kerze ging aus. Niemand sprach ein Wort, man fror und schmiegte sich enger zusammen. Einmal verirrte sichGinster über die Symmetrieachse hinaus, streifte Gliedmaßen Schillings und kehrte sofort um. Das Dunkel war undurchdringlich. Er hörte Mimi atmen und den leichten Atemzug weiter rechts; seinen eigenen Atem hielt er zurück. Die beiden atmeten zusammen, warme, natürliche Wesen, ohne Befangenheit. Es hätte sein können, daß Mimi sich jetzt zu ihm neigte, nur um einen Millimeter vielleicht, aber auf den Millimeter kam es an. Es hätte sein können – indessen, der Körper neben ihm verschob sich nicht. Ginster lauschte, und ohne daß er das leiseste Geräusch vernahm, das zu einem Verdacht berechtigte, glaubte er doch zu spüren, wie der Abstand zwischen Mimi und Schilling sich um jenen winzigen Millimeter verringerte, den er für sich selbst erhoffte. Nichts konnte er tun. Mimis Hand ruhte noch immer auf seiner Brust, doch es war nur zum Trost. In diesem Augenblick fühlten sich vielleicht ihre Leiber, viele Berührungen waren möglich. Unauffällig drehte er sich ein wenig nach außen; die Hand, die schlaffe Hand Mimis, folgte nicht nach. In seinem ausgehöhlten Gehirn dachte es ohne Unterlaß, Gedanken, die um eine nicht zu erfassende Mitte kreisten, und während er an Schillings Stelle zu sein begehrte, wußte er zugleich, daß er sie nicht einnehmen wollte, nicht er – irgendein erdichteter junger Mann vielmehr, hinter dem er selbst sich verbarg. Vorsichtig ließ er sich vom Lager auf den Boden gleiten, schob die Hände unter dem Kopf zusammen und hielt leblos die Augen geöffnet. Er wachte auch stets, wenn er nachts Eisenbahn fuhr. Sie atmeten, die beiden, als seien sie allein, ein Atem, der, so fein und still er war, sich unwiderstehlich behauptete. Ginster zog den Vorhang hoch und sah die Kakaotassen im kalten Frühlicht, noch halb gefüllt von der Nacht her. Gestern war heute. Wo Mimis Hand wie abgelöst aufdem Diwan lag, hatte er selbst gelegen. Sie schlief. Schilling blinzelte gegen die Stube hin und wandte sich weg. Ihre Wangen abgestanden, ihre Frisur zerzaust: ein verworrenes Gekritzel, das kein Schriftbild ergab. Aus dem Gemenge, dessen Konfusion einen Rest von Scham verriet, stach allein das Gelb der zerknitterten Hosen heraus. »Ich möchte gehen«, sagte Ginster, »die viele Arbeit … es ist Zeit.« Gähnend erhob sich Schilling, Mimi räkelte sich weiter. Nach Semesterschluß, etliche Wochen später, erfolgte die Trennung. Sie kamen nicht mehr zurück. Von Mimi traf ein Brief ein, dessen Inhaltslosigkeit sie durch zärtliche Erinnerungen an die Geheimsprache auszugleichen suchte. Ob sie mit dem flüchtig erwähnten Schilling zusammenlebte, war nicht zu ersehen.
    Da Ginster sich im militärpflichtigen Alter befand, gehörte er ohne sein Zutun einem jener Jahrgänge an, die durch öffentliche Plakate aufgefordert wurden, in sauberem Körperzustand vor einer Musterungskommission zu erscheinen. Ein reiner Zufall, daß er sich der Gruppe A-K zurechnen durfte; hätte sein Name anders gelautet, so wäre er unter Umständen nur in die Gruppe L-Z eingereiht worden. Die

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