Ginster (German Edition)
Angelegenheit war insofern außergewöhnlich, als Ginster zum erstenmal eine Macht über sich spürte, die allein auf Grund seines Geburtstages und Anfangsbuchstabens mit ihm zu verfahren gedachte. Er erwähnte die Tatsache dem Bildhauer Rüster gegenüber. Daß Rüster zu seinen Bekannten zählte, war für Ginster ein Rätsel. Gewiß kam der Bildhauer nur dann mit ihm zusammen, wenn er nichts Besseres anzufangen wußte; aber seiner Beschaffenheit nach hätte er ihn eigentlich überhaupt vernachlässigen oder einfach erdrücken müssen. Naturgewalten hatten Rüsters Vollbart undsein Schulterplateau an die Oberfläche getrieben. Saß ein Mensch im Café, dessen Gesicht ihn verdroß, so bat er ihn in die Toilette und maßregelte ihn dort. In seiner Nähe wurde Ginster das Gefühl nicht los, als sei er aus Versehen auf eine führerlose Lokomotive geraten. Er machte sich an den Kranen und Hebeln zu schaffen; jeden Augenblick konnte ein Unglück geschehen. Bei Atelierbesuchen beobachtete er, wie Rüster mit den unförmigen Lehmklumpen hantierte. Zu seiner Verwunderung flogen sie nicht gegen die Wände, sondern verwandelten sich in Köpfe. Das Skizzenbuch irrte zwischen den Kisten, Tüchern und Figuren umher. Auf einem der Blätter wurde ein Mann von seinem eigenen Geschlechtsglied getragen, das sich, ein Elefantenrüssel, nach unten wölbte. Ständiger Geldmangel ermöglichte Rüster, auf Kosten anderer Leute verschwenderischer zu leben als Ginster, dessen Monatsraten er in Notfällen mitbenutzte. Ginster selbst schickte aus Sparsamkeitsgründen die schmutzige Wäsche regelmäßig in einem Körbchen der Mutter; sie kehrte in dem gleichen Körbchen gereinigt zurück, mit einer Wurst obenauf. Versiegten die Quellen Rüsters, so begab sich ein Wunder. Als er einmal im Hochsommer infolge der Abwesenheit gewisser zahlungskräftiger Personen mittellos war, zogen drei Herren nach M., die einen fähigen Bildhauer suchen sollten, der ihr Heimatsörtchen mit einem Zierbrunnen schmücke. Bei Gelegenheit dieses offiziellen Auftrags wollten sie zugleich einige Vergnügungslokale besuchen, deren sie sich aus ihrer Jugend erinnerten. Der Akademieportier, an den sie sich wandten, schickte sie zu Rüster, da die übrigen Künstler alle in Ferien weilten. Rüster bot sich den Herren als Führer durch das Nachtleben an und bewies ein solches Verständnis für ihre Wünsche, daß sie ihm überdies einen reichlichenVorschuß gewährten. Das Nachsehen hatte der Akademieportier, der ein kleinerer Gläubiger des Bildhauers war. Auf die Mitteilung hin, daß die Brunnenstatue beendet sei, erschienen ein paar Monate später die Herren wieder in M. Ehe sie sich von neuem ihren Vergnügungen widmen konnten, mußten sie jedoch die Plastik von den Marken befreien, die der Gerichtsvollzieher ihr aufgeklebt hatte. Übrigens wußte Ginster genau, daß die ihm zuteil gewordene Duldung nicht an die Gefälligkeiten geknüpft war, die er dem Bildhauer in Gelddingen bezeigte; denn Rüster behandelte auch Leute schlecht, bei denen er seine Kasse ergänzte. Um so schwerer war es, sich in seiner Gunst zu erhalten. Vorsichtig führte Ginster ungestüme Reden, die gerade genügten, das Wohlgefallen Rüsters zu erwecken, ohne Anspruch auf seine Achtung zu machen. Hätte Ginster sich um Gleichberechtigung bemüht, so wäre er erledigt gewesen. Der behördliche Befehl, der ihn zur Musterung kommandierte, rief die Heiterkeit des Bildhauers hervor, eine dröhnende Heiterkeit, wie sie nur ein mächtiger Lehnsherr sich erlauben durfte. Rüster sah Ginster an, der sich seinem Schutz empfahl, schüttelte den Vollbart, lachte wieder, runzelte die Stirn, stellte fest, daß der Termin auf den nächsten Morgen anberaumt sei und befürwortete unter solchen Umständen eine gemeinsam zu durchbummelnde Nacht. Zum Glück war Ginster bei Geld; wenn er es auch für zwei Notizbücher und einen Sonntagsausflug zu verwenden plante. Während der Bildhauer infolge des Alkoholgenusses immer heftiger wurde, ging er selbst allmählich verloren. Man schien ihn einzuwickeln und in einen Lastwagen zu verstauen, der an einer gekrümmten Mauer entlang fuhr, hinter der es krachte. Von Zeit zu Zeit wurde er ausgepackt und zwischen beleuchteten Gesichtern abgesetzt.Fortwährend tauchten Stücke von Rüster und herrenlose Sätze auf, die in Ginster ihren Anfang genommen haben mußten. Im grauen Morgen fand er sich allein auf der Straße. Kaum zu begreifen, daß Frühspaziergänge sich so großer
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