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Ginster (German Edition)

Ginster (German Edition)

Titel: Ginster (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Siegfried Kracauer
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Beliebtheit erfreuen. Kaltes Wasser, eine Blumenfrau, Burschen. Die Musterungskommission erkannte seine völlige Untauglichkeit an.
    Eines Tages hatte Ginster in M. den Besuch eines jungen Menschen erhalten, der sich auf die Empfehlung eines gemeinsamen Bekannten berief. Otto. Wie Ginster war er in F. zur Schule gegangen, die Familien grüßten sich flüchtig. Eine etwas stubenhafte Erscheinung hinter Brillengläsern, die Behauptungen aufstellte und sie mit heiserer Stimme begründete. Alles war neu, wie ein Möbel. Das erste Zusammensein versetzte Ginster in die gleiche Spannung, die bei einer Meerfahrt entsteht, wenn am Horizont ein Pünktchen erscheint. Das Pünktchen wird zum Schornstein, und allmählich steigt der Dampfer empor. Eine Seereise schwebte Ginster schon immer vor. Die langen Perioden, zu denen Otto ausholte, wurden stets zu Ende geführt. Gewöhnlich erbrachte erst der Abschluß der Konstruktionen den Beweis für ihre Möglichkeit. Man bohrt sich in einen Berg ein und taucht an der vorausberechneten Stelle wieder auf. Während er Nebensätze aneinanderhing, umstrich ihn Ginster unsachlich und betagt. Er lächelte: ein solches Eröffnungsgespräch. Ottos Figur hatte die Freundlichkeit des Rechtecks. Wurden die ersten Semester und die klassische Philologie von ihr abgestreift, so kamen feine Gelenke zum Vorschein und ein hübsches Knabengesicht. Ginster suchte es vor dem Anstrich von Gesetztheit zu erretten, den es durch die beginnende Männlichkeit erhielt. Ganz von vorne wollteer im Verkehr mit Otto anfangen, ohne Vergangenheit. Bei Begegnungen mit fremden Menschen hatte er bereits öfters diesen Vorsatz gefaßt. Das eine Mal war er mit vornehmer Zurückhaltung aufgetreten, ein anderes Mal glaubte er kühn wirken zu müssen. Der verwandelte Ginster dauerte kurze Zeit und schmolz dann zu einem Häufchen zusammen. Die meisten Leute wußten Bescheid, ehe die künstlich hergestellte Erscheinung zerfiel. Dennoch gab er die Hoffnung nicht auf. Vielleicht gelang es ihm, so eifrig wie Otto zu sein, der gerade bei den Platonischen Dialogen verweilte.
    »Wenn ich es recht bedenke«, sagte Otto, »übt von allen Methoden zur Bestimmung des Alters der Dialoge jene die größte Anziehungskraft auf mich aus, die nicht von dem Sinn der Werke ausgeht, sondern die belanglosen, unbetonten Worte hervorzieht – Worte also, die gewissermaßen im Schatten liegen – und nun nachforscht, ob in datierten Schriften die gleichen Worte mit dem gleichen Inhalt sich finden.« Aus dem Bedeutungswandel, den die Hauptbegriffe in den Dialogen erlitten, lasse sich die Abfolge der Werke niemals sicher erschließen; während die Übereinstimmung sachlich wie immer voneinander abweichender Werke hinsichtlich der in ihnen verwandten unakzentuierten Begriffe bündig davon zeuge, daß die betreffenden Werke in demselben Zeitabschnitt entstanden seien. »Ich gestehe Ihnen«, fuhr er unablenkbar fort, »daß mich gerade solche Untersuchungen entzücken, die scheinbar geringfügig anfangen und zu wichtigen Ergebnissen kommen.«
    Der Gegensatz zwischen Ottos funkelndem Anstand und der Schlauheit des Verfahrens hätte nicht größer sein können. »Ein bekannter Baumeister«, erzählte Ginster, »war mit der Rekonstruktion einer mittelalterlichen Burgruinebeauftragt worden. Statt die Mauerreste verfallen zu lassen – sie wurden vermutlich immer schöner, je mehr sie verfielen –, verwandte er sie als Material für Indizienbeweise. Die Neuanlage mit ihren Basteien entsprach dem Stand der modernen Archäologie. Daß sie dem Mittelalter nicht entsprach, ging aus alten Plänen hervor, die man zum Unglück verspätet entdeckte.«
    »Ich verstehe. Rekonstruktionen dieser Art sind natürlich geschmacklos, ganz abgesehen davon, daß sie wissenschaftlich niemals einwandfrei sind.«
    »Das wäre noch das Geringste …«
    »Aber wollten Sie denn mit Ihrem Beispiel behaupten, daß es triftig begründete Wissenschaftshypothesen überhaupt nicht gebe?«
    Eigentlich hatte er es gewollt. Indessen, Otto erwartete sich von seiner Methode so viel, daß Ginster nachgab. Er lobte die Methode, weil sie das Gewicht auf Nebensachen lege und Schleichwege benutze. Sie sei für Detektive geschaffen. »Nur eben«, fügte er hinzu, »glaube ich nicht, daß es darauf ankommt, die ursprüngliche Wirklichkeit zu ermitteln.«
    »Sondern …?« Otto wischte die Brille ab.
    »Kolumbus mußte nach seiner Theorie in Indien landen; er entdeckte Amerika. Nicht anders, meine ich,

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