Girl Parts – Auf Liebe programmiert
Hände. »Immer mit der Ruhe. Keiner überfällt hier irgendwen, David. Ihre Eltern machen sich Sorgen, und wir alle halten ein offenes Gespräch an diesem kritischen Punkt für das Beste.«
»Hallo?«, sagte Mrs Sun. »David, mein Herzchen, wenn du mich hören kannst – ich bin’s, deine Mutter, und wir lieben dich sehr.«
»Himmel, Evelyn«, sagte Mr Sun. »Vierzehn Jahre in diesem Haus, und du kennst dich immer noch nicht mit dem Telefon aus?«
»George? Bist du das? Dich höre ich, aber ich kann David nicht hören.«
»Ich bin da, Mom«, sagte David.
»Hallo?«
Dr. Roger räusperte sich. »David, wir würden gern mit Ihnen über den vergangenen Freitag reden.«
»Was ist denn vergangenen Freitag passiert?«
»Vielleicht möchten Sie es uns erzählen?«
David machte eine rasche Bestandsaufnahme aller Regeln, gegen die er verstoßen hatte. Rauchen, mit überhöhter Geschwindigkeit fahren, nach der Sperrstunde unterwegs sein … Er zuckte mit den Schultern.
»Ich weiß nicht, was Sie meinen.«
»Hast du zugeschaut, wie sich dieses Mädchen umgebracht hat?« Mr Suns Stimme kam krächzend über den kleinen Lautsprecher. »Hast du oder hast du nicht?«
David hatte seit Freitag nicht mehr an das Selbstmord-Video gedacht. Er schluckte. »Woher weißt du …?«
»Das spielt letztlich keine Rolle«, sagte Dr. Roger. »Entscheidend ist …«
»Ich habe in den Google News davon gelesen und mir dann deine Internetchronik angeschaut«, sagte Mr Sun.
»Du bist an meinem Computer gewesen?«
»Was hat er gesagt, George?«, fragte Mrs Sun.
» Dein Computer?«, wiederholte Mr Sun. »Von deinem Zeitungsausträgerjob bezahlt, ja?«
»Ich denke, wir schweifen ab«, sagte Dr. Roger mit schmallippigem Lächeln. »David, entscheidend ist nicht, dass Sie sich das angesehen haben. Es ist ganz natürlich, sich für den Tod zu interessieren. Entscheidend ist, dass Sie nicht eingegriffen haben.«
David begann sich zu verteidigen, verstummte aber rasch. Der Gedanke, sich einzumischen, war ihm schlicht nie gekommen. Er verspürte eine leise Scham, so ähnlich wie jemand, der in die Schule kommt und merkt, dass er vergessen hat, Unterwäsche anzuziehen. Aber so einer war ein Idiot, kein schlechter Kerl. Und das schien die Schlussfolgerung zu sein: dass er ein schlechter Mensch war.
»Was hätte ich denn tun sollen?«
»Wie wäre es gewesen, die Polizei zu verständigen?«, schlug Dr. Roger vor. »Oder die Eltern? Sie kannten das Mädchen doch, oder?«
»Na ja, ich weiß, dass sie auf Saint M gegangen ist …«
»Warum hast du dann nichts getan ?«, krächzte Mr Sun.
Es war also doch ein Hinterhalt.
»Hey, die Leute machen den seltsamsten Scheiß …«, fing David an.
Dr. Roger blickte finster.
»… die seltsamsten Sachen«, fuhr er fort, »wenn sie im Internet sind. Wahrscheinlich mixt sich genau in diesem Moment ’ne andere traurige Braut ihren Todescocktail. Ich kann nichts für ihre Depressionen. Ich hab sie nicht gezwungen, die Pillen zu schlucken. Wieso tut ihr alle so, als wäre ich dran schuld?«
Am Telefon herrschte Schweigen. Dr. Roger faltete seine Hände.
»David, wie viel Zeit verbringen Sie Ihrer Einschätzung nach täglich im Web?«
»Was spielt denn das jetzt für eine Rolle?«
»Geben Sie einfach mal eine Schätzung ab.«
»Na, sagen wir, sechs Stunden?«
»Ist dabei die Schule mitgerechnet?«
»Mein Unterricht findet online statt«, sagte David. »Und? Krieg ich vielleicht deswegen auch noch Ärger?«
Er spürte, wie ihm heiß wurde. Er lockerte seine Schulkrawatte.
»Ich wiederhole es noch einmal, David. Sie bekommen keinen Ärger.« Dr. Roger beugte sich vor, und sein Gesichtsausdruck wurde milder. »Wir fragen, weil Ihre Eltern und ich den Eindruck haben, dass Sie sich zu weit vom wirklichen Leben entfernt haben. Wir machen uns Sorgen, Sie könnten nicht auf den Gedanken gekommen sein, diesem Mädchen zu helfen, weil Sie unter einer dissoziativen Störung, einer Gefühlsverarmung, leiden.«
»Gefühlsverarmung?«
»Unfähigkeit zu emotionalen Bindungen.«
»Ich glaube, Evelyn ist uns abhandengekommen«, sagte Mr Sun.
»Ich bin noch da, George, aber ich kann nur deinen Anteil am Gespräch hören.«
»Also schön, ich hab nichts unternommen«, sagte David. »Aber auch sonst niemand! Wenn mit mir irgendwas nicht stimmt, dann auch mit allen anderen nicht.«
»Wenn alle, die Sie kennen, von einer Brücke springen würden, würden Sie es auch tun?«, fragte
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