GK0085 - Amoklauf der Mumie
Hinterhof war zum Glück leer, so daß sie niemand sah. Die Tür war offen. Sogar so weit, daß sich Tessa durch den Spalt schieben konnte. Auf Zehenspitzen schlich sie in den Raum. Wenn Cornelius jetzt zurückkam…
Er kam nicht. Tessa huschte zu der Kiste. Der Deckel war mit einem Schnappschloß gesichert, das man mit einer zurechtgebogenen Haarklammer öffnen konnte. Tessa wußte selbst nicht, warum sie sich auf einmal so für die Mumie interessierte. Es war ein unerklärlicher Drang, der sie vorwärts trieb. An einem Haken an der Tür entdeckte sie Cornelius’ Leinenjacke. Mit flinken Fingern durchwühlte sie die Taschen – und stieß einen überraschten Laut aus. Die Reserveschlüssel waren ihr in die Hände gefallen. An dem Bund hingen mehrere Schlüssel. Unter anderem auch der, der zu der Holzkiste paßte. Sie war vor innerer Aufregung schweißnaß, als sie den Schlüssel in das kleine Schloß steckte. Es schnappte sofort zurück. Tessa hob den Deckel an. Unbeweglich lag die Mumie in der Kiste. Das grüngelbe Leinen wirkte seltsam feucht und fettig. Tessas Zunge huschte aufgeregt über ihre Lippen, als sie die Mumie betrachtete. Dir Blick wanderte über die massige Gestalt, den Oberkörper, den Hals, den Kopf, erreichte die Sehschlitze, die…
Mit einem Schrei fuhr die junge Studentin zurück. Durch die Schlitze starrten sie zwei glühende Augen an…
***
Mit einem Ruck knallte Tessa den Deckel zu und schloß ab. Sie steckte das Schlüsselbund wieder in die Jackentasche zurück und rannte auf den Balkon. Hastig kletterte sie zurück in ihr Zimmer, wo sie sich schluchzend auf das Bett fallen ließ. Nur allmählich beruhigte sich das junge Mädchen, schalt sich eine Närrin, daß sie so einfach davongelaufen war. Du bist verrückt, sagte sie sich, einfach verrückt. Sie hatte für einen Augenblick geglaubt, die Mumie würde leben. Einfach Quatsch, so etwas.
Bestimmt hatten ihr die überreizten Nerven einen Streich gespielt. Trotzdem, das ungute Gefühl blieb, und Tessa beschloß, dem Professor von ihrer Entdeckung nichts zu sagen.
***
Die Nacht verlief ruhig. Tessa Mallay schlief fest und traumlos. Wahrscheinlich hätte sie bis zum Mittag durchgeschlafen, wenn Professor Cornelius nicht um neun Uhr morgens an ihre Tür geklopft hätte.
»Stehen Sie auf, Tessa! Ich erwarte Sie in einer halben Stunde unten im Hotel.«
»Ich bin pünktlich!« rief Tessa.
Sie hatte doch ein wenig Herzklopfen. Immer noch steckte in ihr die Angst, der Professor könnte etwas gemerkt haben. Deshalb nahm sie sich vor, auf jeden seiner Wünsche einzugehen. Das Frühstück nahmen sie in einem kleinen Raum ein. Sie waren nicht die einzigen Gäste. Die anderen waren ebenfalls Europäer! Geschäftsreisende und Touristen. Es gab Weißbrot und Hammelfleisch. Tessa schmeckte es nicht. Sie würgte jedoch die Bissen hinunter. Professor Cornelius aß schnell und hastig. Dabei trank er eine halbe Flasche Mineralwasser.
»Der Zug fährt gegen Mittag«, sagte er kauend. »Die genaue Zeit ist noch nicht angegeben worden. Man kann sich nämlich nicht so hundertprozentig auf die Bahn verlassen. Ich habe auf jeden Fall zwei Fahrkarten der Ersten Klasse gekauft.«
Tessa nickte und steckte sich eine Zigarette zwischen die blaß geschminkten Lippen.
»Wann sind wir in Kairo?« wollte sie wissen.
»Irgendwann morgen nacht«, erwiderte Cornelius und gab der jungen Studentin Feuer.
Tessa sog den Rauch tief in die Lungen. Ihr Blick streifte die Decke. Zwei Ventilatoren versuchten vergeblich, Kühlung zu bringen. Schon jetzt klebten einem die Sachen am Körper. Die junge Studentin sehnte sich zurück nach England. Professor Cornelius stand auf. »Ich gehe noch in mein Zimmer. Am besten, Sie machen das gleiche.«
Tessa nickte. Mit einem knappen Gruß verließen die beiden den Frühstücksraum. Gegen zwölf Uhr brachte sie ein Lieferwagen des Hotels zum Bahnhof. Professor Cornelius gab dem Fahrer ein anständiges Trinkgeld, damit er ihm half, die Kiste auf den Bahnsteig zu schaffen. Bahnhof war an sich zuviel gesagt. Das Ganze war nicht mehr als ein zusammengewürfelter Bretterhaufen, aus dem man Schuppen und kleinere Gebäude gebaut hatte. Es gab drei Gleiskörper. Die Hauptstrecke führte bis in die Landeshauptstadt Kairo. Die Nebenstrecken endeten in irgendwelchen verlassenen Wüstendörfern. Gnadenlos brannte die Sonne auf den kleinen Bahnhof. Auf den Holzplanken zu beiden Seiten der Gleise hatten sich die Reisenden versammelt. Es war ein
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