GK0129 - Das Phantom von Soho
Schneeflocken wild umhertanzten. Der kleine Vorgarten war bereits von einer weißen Schicht bedeckt, und der ehemalige Richter dachte daran, daß er wohl am nächsten Morgen Schnee schaufeln konnte. Das Haus lag in einer wenig befahrenen Straße, und wenn die Scheinwerfer eines Wagens aus den Schneeflocken auftauchten, wirkten sie wie Boten aus einer anderen Welt.
Hugh Crayton liebte dieses Wetter. Er freute sich dann immer auf sein gemütliches Zuhause und bedauerte die Menschen, die draußen sein mußten.
Die Fensterscheibe beschlug unter Craytons Atem. Der ehemalige Richter wischte den Film mit dem Handrücken weg. Er war so in Gedanken versunken, daß ihn die Stimme regelrecht aufschreckte.
»Sir Crayton, ich hole dich! Denk an das Versprechen!«
Der pensionierte Richter wirbelte herum. »Hallo«, rief er, »ist da jemand?« Keine Antwort.
Crayton schüttelte den Kopf. Sollte er schon so alt sein, daß er Stimmen hörte, wo keine waren? Naja, das sind vielleicht die Nerven, sagte er sich.
Wieder wandte sich Crayton dem Fenster zu, und dann ließ ihn ein böses Kichern herumfahren.
Im gleichen Augenblick wurden Craytons Augen weit vor Entsetzen. Wie ein Magnet wurde sein Blick von dem Schreibtisch angezogen. Mitten in der Platte steckte ein Messer mit blutverschmierter Klinge…
Der Knauf der Waffe zitterte noch unmerklich. Das Messer mußte erst gerade in das Holz hineingestoßen worden sein.
Aber von wem?
War jemand hier gewesen? Ein Einbrecher? Crayton schüttelte den Kopf. Nein, dann hätte er etwas gehört.
Doch das Messer konnte schließlich nicht aus der Luft gekommen sein!
Langsam trat Hugh Crayton näher an den Schreibtisch. Er streckte seine Hand aus, wollte die Waffe berühren, doch im gleichen Augenblick durchjagte ihn ein heißer Schreck.
Er kannte die Waffe! Er hatte sie schon dutzende Male in der Hand gehalten. Dieses Messer, das in seiner Schreibtischplatte steckte, gehörte Monty Parker, dem Phantom von Soho!
Augenblicklich fielen dem Richter die Ereignisse der Vergangenheit ein. Er dachte an seinen letzten, großen Prozeß, an Monty Parker und an dessen Versprechen.
Er stand ganz oben auf der Todesliste des Mörders!
Hugh Crayton begann zu zittern. Er wischte sich über die Augen, blickte dann wieder auf die Schreibtischplatte – und erstarrte.
Das Messer war verschwunden!
»Das gibt es doch nicht«, stöhnte der ehemalige Richter, taumelte zu einem Sessel und ließ sich rücklings hineinfallen. Der Mann zitterte am gesamten Körper. Immer wieder blickte er zu seinem Schreibtisch hin, doch das Messer war und blieb verschwunden.
»Eine Halluzination«, versuchte sich Hugh Crayton einzureden, doch er glaubte nicht so recht daran.
Sollte an dem Schwur tatsächlich etwas Wahres gewesen sein?
Hugh Crayton spielte mit dem Gedanken, in der Anstalt anzurufen, doch dann kam ihm dieses Vorhaben zu lächerlich vor. Monty Parker saß hinter ausbruchssicheren Mauern, das wußte er genau. Er hätte sich mit dem Anruf nur blamiert. Und wenn Parker tatsächlich eine Flucht gelungen sein sollte, hätte er bestimmt davon gehört.
Nein, das alles war eine Einbildung.
Das Brummen eines Automotors schreckte ihn aus seinen Gedanken. Türen klappten zu, und Männerstimmen waren zu hören.
Dann fuhr der Wagen wieder weg. Die beiden Bridgepartner waren mit einem Taxi gekommen.
Hugh Crayton stand auf. Tief atmete er durch. Nur nichts anmerken lassen, nahm er sich vor.
Der ehemalige Richter machte Licht. In der kleinen Diele hing neben der Garderobe ein Wandspiegel mit einem meisterlich geschnitzten Holzrahmen.
Hugh Crayton warf einen Blick in den Spiegel und erschrak darüber, wie bleich er war.
Schon schellte es.
Crayton öffnete.
Die beiden Freunde lachten ihn an. »Teufel, Hugh, hast du ein Wetter bestellt«, sagte Simon Blocker, nahm seinen Hut ab und schüttelte den Schnee ab. Schnell drückte er sich an Hugh Crayton vorbei ins Haus.
»Na, wie geht’s dir denn so als Strohwitwer?« fragte Abe Foremann grinsend und ging ebenfalls ins Haus. Er schlüpfte aus seinem Mantel, hängte ihn an die Garderobe, rieb sich beide Hände und meinte: »Hoffentlich hat wenigstens der Whisky die richtige Temperatur. Ah, ich rieche schon das herrliche Aroma, sehe Weizenfelder vor mir und…«
Lachend gingen die Neuankömmlinge in das Arbeitszimmer. Nur Hugh Crayton blieb ungewöhnlich ernst.
Simon Blocker fiel Hughs Zustand als erstem auf. »Sag mal, hast du was?«
»Wieso?«
»Du bist irgendwie
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