GK0137 - Das Todeskabinett
Kompliment. An ihr war aber auch gar nichts Auffälliges. Das Gesicht war immer bleich, und sie trug nur weiße, gestärkte und sehr hochgeschlossene Blusen. An diesem Tag hatte sie ein graues Tweedkostüm an, das sie noch farbloser erscheinen ließ. Ihre Füße steckten in Schuhen mit flachen Absätzen.
Frederic Stafford betrachtete die Hausmeisterin etwa eine halbe Minute lang.
Dann räusperte er sich und sagte: »Wir haben keine Spur von Milly Day gefunden, Miss Folsom. Ich sehe mich leider gezwungen, die Polizei einzuschalten.«
»Mein Gott.« In einer Schreckreaktion preßte Miss Folsom ihre rechte Hand vor den Mund.
Stafford lächelte maliziös. »Ich kann mir denken, daß Ihnen das nicht recht ist, Miss Folsom. Schließlich hatten Sie gestern bis Mitternacht Dienst. Sie hätten Milly Day ja sehen müssen, wie sie die Schule verlassen hat.«
»Sir, ich…«
»Ach, schweigen Sie. Diese Mädchen sind schlauer als Sie, Miss Folsom. Wahrscheinlich ist Milly Day durch ein Fenster geklettert, und dann ist alles andere nur noch ein Kinderspiel. Wir wollen uns aber nicht lange mit Selbstvorwürfen aufhalten, sondern zum Thema kommen. Ich hatte Ihnen den Auftrag gegeben, sich einmal unauffällig nach Milly zu erkundigen. Was ist dabei herausgekommen?«
Miss Folsom wurde rot, was bei ihr selten und nur in Gegenwart ihres Chefs vorkam. »Sir, ich habe es versucht, aber die Schülerinnen haben mir entweder gar keine oder nur patzige Antworten gegeben. Sie wissen ja selbst, heutzutage gibt es keine Respektpersonen…«
»Ja, ja, schon gut.« Stafford winkte ab. »Beinahe hatte ich mir so etwas gedacht. Dann werde ich es versuchen. Eine Frage: sind die Schülerinnen alle im Haus?«
»Selbstverständlich, Sir.«
»Gut. Dann berufen Sie in einer halben Stunde eine Versammlung in der kleinen Aula ein. Schaffen Sie das?«
»Ja, Sir.«
»Danke, das war’s.«
Miss Folsom verneigte sich und ging mit steifen Schritten zur Tür. Frederic Stafford mußte daran denken, daß sie von den Schülerinnen Nebelkrähe genannt wurde, und trotz der ernsten Situation huschte ein schmales Lächeln über seine Lippen.
Er zündete sich eine Pfeife an und verbrachte die nächsten fünfundzwanzig Minuten in dumpfen Grübeleien. Er hatte Angst davor, Millys Vater zu benachrichtigen. Jonathan Day besaß einen einflußreichen Posten im Innenministerium und konnte auch einem Mann wie Stafford die Hölle heiß machen.
Fünf Minuten vor der verabredeten Zeit verließ Frederic Stafford sein Arbeitszimmer und begab sich in die kleine Aula.
Etwa vierzig junge Mädchen saßen auf den harten Stühlen und blickten ihn spöttisch an. Die meisten kicherten, als Stafford den Saal betrat. Der Direktor war das gewohnt, er nahm es nicht zu Kenntnis. Sein Blick glitt auch gleichgültig über die provozierend engen Pullover der Schülerinnen hinweg, er konnte sich in seiner Stellung keine Gefühle leisten. Wenigstens nicht, was die weiblichen Reize betraf.
»Meine Damen«, sagte Stafford, »Sie werden vielleicht schon bemerkt haben, daß jemand aus Ihrer Mitte fehlt. Milly Day ist in der vergangenen Nacht nicht in die Schule zurückgekehrt. Und auch bis zum jetzigen Zeitpunkt haben wir keine Spur von ihr.«
In der ersten Reihe begann eine Blondine mit langer Pferdemähne zu kichern. »Die kleine Milly wird sich bestimmt jemanden geangelt haben«, sagte sie. »Schließlich muß jeder mal anfangen, und ich…«
»Ihre Bemerkungen können Sie sich sparen«, unterbrach Stafford die Schülerin. »Ich habe wohl vergessen, Ihnen zu sagen, daß es sich hier um eine todernste Angelegenheit handelt. Milly Day kann etwas passiert sein, und deshalb möchte ich Sie bitten, mit mir zusammenzuarbeiten. Wer von Ihnen weiß, wo Milly Day gestern abend hingegangen ist?«
Schweigen. Die Mädchen sahen sich an und zuckten die Schultern. Manche machten auch ein übertrieben gelangweiltes Gesicht, und Stafford konnte ihnen ansehen, daß sie auf seine Frage bewußt keine Antwort gaben.
»Gut, dann fragen wir anders«, sagte Frederic Stafford, der sich so leicht nicht aus der Ruhe bringen ließ. »Wer von Ihnen teilt mit Milly Day das Zimmer?«
Ein schwarzhaariges Mädchen mit einer wilden Lockenfrisur stand auf. Provozierend stemmte sie ihre Arme gegen den Gürtel der verwaschenen Jeans und sagte: »Ich teile mit ihr das Zimmer.«
»Schön. Dann werden Sie uns sicher sagen können, Miss Sturgess, was Milly am gestrigen Abend vorgehabt hatte. Sie wird doch mit Ihnen
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