GLÄSERN (German Edition)
schlichte Gemüter nie zu unterschätzen. Außerdem hatte er leider nicht komplett Unrecht. Daher erwiderte ich so abweisend ich konnte: »Es interessiert mich nicht, was Sie sehen, mein Herr. Und nun schieben Sie!«
Wir brauchten lange, viel zu lange, um wieder in einen einigermaßen ansehnlichen Zustand zu kommen. Wir hatten zuerst versucht, das ausgeladene Gepäck nicht durch den tiefen Matsch zu schleifen und es möglichst sauber auf dem Rücken durch den Schlamm zu tragen. Inzwischen bedauerte ich es, so viel Kram mitgenommen zu haben; zudem mir Sandy bei meinem Gepäck natürlich nicht unter die Arme griff. Danach schoben wir zu viert die nun unmerklich leichtere Kutsche, bis sie endlich auf festerem Boden stand, und wiederholten eine ähnlich würdelose Prozedur mit der Personenkutsche. Zum ersten Mal seit dem Aufbruch verfluchte ich den monströsen Spiegel und meinen leichten Hang zur Eitelkeit. Wenigstens war meine aufblitzende Furcht vor dieser großen Reise von der Anstrengung und dem andauernden Nieselregen beiseite gespült worden. Ich dachte schon seit einer Stunde nicht mehr darüber nach. Wie ich bereits sagte, gehört es nicht zu meiner Aufgabe, zu zweifeln. Und es ist auch nicht meine Art.
Nachdem wir die erste Nacht in der Kutsche mehr über als nebeneinander verbracht hatten und ich Giniver am Morgen beim Umkleiden half, beobachtete ich, wie der Lord sich einige Schritte weiter an einer Quelle mit seinem Hemd abmühte, und so nahmen wir uns vor, für den späteren Abend einen Pub anzusteuern, um uns und unsere Kleidung einer Grundreinigung zu unterziehen. Mein Kreuz hatte mehrmals vernehmlich geknackt, als wir uns in aller Herrgottsfrühe die Beine vertraten. Die Kutscher fachten bereits das Feuer vom Abend an und ich sog den mir sonst verhassten Kaffeeduft tief ein. Ich war ein passionierter Teetrinker und alternativ ließ ich lediglich einen guten Port oder ein Bier zu.
Unsere Erscheinung hatte empfindlich gelitten, wir waren zerzaust, rochen auch nicht gerade nach Veilchenwasser. Ich fühlte mich schmuddelig, ekelte mich vor mir selbst und jedem der sich in meiner Nähe befand, außer Giniver. Bei Lord Sandy fiel der Schmutz deutlich weniger auf. Allerdings stand er seit seiner Wäsche an der Quelle unter dauernder Spannung, trieb die Kutscher an und machte sogar Giniver und mir Beine, als würde er verfolgt werden. Reflexartig legte ich den Kopf in den Nacken, sah jedoch keine Rabenfrau in den dichten Ästen kauern und uns beobachten. Offensichtlich forderte der mysteriöse Bräutigam in ihm bereits seinen Tribut; keine ledige Jungfrau ohne lästigen Anhang in Sicht, nur schneebedecktes Grün, Wald und Feld, die erste englische Stadt in allzu weiter Ferne. Wir frühstückten, wuschen unsere Hände kurz in der nahen Quelle und packten unser Hab und Gut. Zum ersten Mal hatte ich Gelegenheit, mit Giniver allein über den Lord zu spekulieren, und wir wandten der Reisegesellschaft den Rücken zu.
»Was denkst du, lässt die Herrin ihn bereits beschatten? Er benimmt sich ziemlich seltsam, noch mehr als ohnehin schon.«
»Es scheint so«, flüsterte sie scheu. Süß, wie schüchtern sie immer war.
»Meiner Meinung nach«, fuhr ich verschwörerisch fort, »ist er schizophren. Das habe ich in einem Buch gelesen, sehr spannend. Es sind sozusagen zwei Geister in einem Gefäß vereint. Wie Zwillinge, die sich einen Körper teilen. Eine Art genetische Chimäre. Wirklich gruselig. Und gefährlich. Denn einen Mann wie ihn kann man nur schwer im Zaum halten. Vor allem ist er uns allen körperlich bei weitem überlegen. Ich will nicht illusorisch sein …«
Sie nickte eifrig.
Ich deutete mit dem Kopf hinter mich. »Sieh nur, wie nervös er ist.« Es belustigte mich doch sehr, wie der große Mann mit seinem nassen Hemd brabbelnd zwischen den Bäumen umhertorkelte und sich bei jedem Ächzen der Äste hektisch umblickte. »Bestimmt beobachtet sie ihn bereits.« Ich berührte die glitzernde Oberfläche der Quelle.
… geh nicht durch offene Spiegel …
Giniver kannte meine Ansicht zu den Zaubereien der Lady, ihren Tränken aus Kräutern und seltsamen Tinkturen, an welchen sie sich in ihrem Saal stets hinter geschlossenen Türen versuchte. Ich selbst habe sie ebenfalls – wie alle Bewohner des Manors – den alten Glauben praktizieren sehen; eine Bekundung, natürlich ganz im Gegensatz zu dem der Dörfler, welche absolut und unwiederbringlich christlichen Glaubens sind. Durch das Gestrüpp beobachtete
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