GLÄSERN (German Edition)
und Einsamkeit, so wie ich. Und jedes Mal waren die Monster – oder das Böse an sich – stets offensichtlich sichtbar und hielten nicht mit ihren grausigen Fratzen, die nur den Schurken vorbehalten waren, vor dem Berg. Ich schüttelte den Gedanken ab. Mich mit einem Monster aus fiktiven Geschichten zu vergleichen, war mir ebenso wenig willkommen wie ein Klumpfuß oder die Pocken. Gewaltsam versuchte ich mir einzureden, dass ich diesmal nicht fortgeschickt wurde, um auf den vereisten Straßen der kalten Stadt zu krepieren, wie Jahre zuvor von meiner Familie, mit nichts als diesem einen vermaledeiten Buch. Weiß der Henker, wie ein tumber Mann wie mein Vater zu so etwas kam, wahrscheinlich Diebesgut, bei dem er dachte, es würde anstatt Geschichten ein kostbares Kollier enthalten, eingebettet im sorgfältig ausgehölten Buchblock. Bald wäre ich wieder zurück im Manor, ganz bestimmt. Demonstrativ klappte ich das Buch auf und verscheuchte meine eigenen Geister für einen Moment.
Die Fahrt verlief vorerst ohne größere Zwischenfälle. Giniver und ich schmökerten bald zusammen in einem alten, im Auflösen begriffenen Werk von Tennyson. Meine Freundin hatte ihre kalten Füße unter meinen dicken Mantel gesteckt. Ich nahm ihr das Spitzenhäubchen ab, das ihr über die Stirn gerutscht war, und verstaute es sorgfältig unter dem Sitzpolster. Dann tauchte ich gerade wieder durch die Welt der zuckersüßen Verklärtheit eines Gedichtes, als mir ein stetes Räuspern die Lektüre verleidete.
Ich blickte genervt auf. Lord Sandford hatte ebenfalls sein Bilderbuch – oder was immer er da vorgab, anzusehen – beiseitegelegt und blickte mich durchdringend an. Als ich mich wieder der Beschreibung der goldenen Abenddämmerung widmen wollte, räusperte er sich doch tatsächlich erneut, diesmal lauter, und neigte sich mir entgegen.
»Ich hätte da doch einige Fragen. Was ist Ihnen bekannt über den Grund ihres Verschwindens? Ein simpler Streit kann es doch wohl nicht gewesen sein, beim besten Willen. Aber man ließ mir ziemlich wenig Wissenswertes zukommen, derweil doch ohne Informationen wenig Chance auf eine erfolgreiche Suche besteht.«
Ich klappte den Gedichtband zu und seufzte vernehmlich. »Ihre Neugierde verdrängt anscheinend Ihren Takt«, entgegnete ich. »Zudem bestand bereits gestern Nacht noch die Möglichkeit, mich um etwas mehr Information zu bitten. Doch Sie wollten ja unbedingt stattdessen ein Bad nehmen. Nicht, dass das gänzlich Verschwendung gewesen wäre.« Ich zückte ein Schreiben und überreichte es ihm. »Beginnen wir mit etwas Einfachem.«
Es war ein Brief des Grafen Waldeck, den ich auf Geheiß der Lady von einem Boten abgefangen hatte, ehe er das Manor verlassen konnte. Ich hatte ihn im Anschluss an meine Herrin natürlich selbst gelesen, auch weil es mich stutzig gemacht hatte, dass er an niemanden Speziellen gerichtet schien, denn ein Empfänger fehlte. Auch hatte der Bote, der exakt des Nachts auf diese Nachricht gewartete hatte, anschließend Fersengeld gegeben. Niemals jedoch kam jemand deswegen zurück oder hatte gar unauffällig danach gefragt.
Lord Sandy lehnte sich zurück und begann den kurzen Brief zu lesen. Für die nächsten Stunden schien nun eine ruhige Fahrt möglich, hoffte ich.
Getreuer Freund,
viel Zeit bleibt mir nun nicht mehr, obgleich, die Kräuter meiner einstmals geliebten Frau scheinen ihrer Wirkung zu entsagen. Ein Servant sucht mich meist in den Abendstunden heim, in denen es mir inzwischen etwas besser geht. Meine Frau jedoch hat ihre einst täglichen Besuche beinahe gänzlich aufgegeben. Ich habe allen Grund anzunehmen, dass wieder einer ihrer Spiegel zerbrach. Sie kam vor Stunden herauf und schnitt mich zornig mit einer Scherbe. Aber ich blute längst nicht mehr. Sie will mich still halten, damit ich nicht von ihr fort kann.
Ich muss dir mitteilen, dass sie jemanden entsenden wird, dessen Aufgabe es ist, meine kleine Tochter zurückzubringen. Ich kenne ihn nicht. Der Servant jedoch ist immer der Bote. Sie nimmt all die Schreiben entgegen und ihre Hände riechen stets nach Kräutern. Ich denke, sie ist ebenfalls pflanzenkundig. Nein, ich weiß es. Ich weiß alles, denn sie und meine Frau werden mich irgendwann für sterbend erklären, falls mein Kind nicht zurückkehren sollte, um mich zu holen.
Meine Frau fällt dem Wahnsinn anheim, wie ich fürchte. Sie will die›Eine sein, dabei ist sie für mich nie etwas anderes gewesen. Und sie weiß, dass sich mit jedem
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