Glanz und Elend der Kurtisanen (German Edition)
übrigens, ebenso wie die Corentins, so lebhaft geweckt, daß er sich auch ohne Gründe gern in dieses Drama eingemischt hätte. In diesem Augenblick war die Politik Karls X. zur letzten Phase ihrer Entwicklung gelangt. Der König hatte das Steuer der Geschäfte selbstgewählten Ministern anvertraut und bereitete die Eroberung Algeriens vor, um den dadurch erworbenen Ruhm als Paß für das zu benutzen, was man einen Staatsstreich genannt hat. Im Innern konspirierte niemand mehr; Karl X. glaubte keinen Gegner mehr zu haben. Wie auf dem Meere gibt es auch in der Politik eine trügerische Windstille. Corentin war also einer absoluten Beschäftigungslosigkeit verfallen. In einer solchen Lage schießt der echte Jäger, um seine Hand in Übung zu erhalten, statt der Krametsvögel Amseln. Domitian tötete Fliegen, wenn er keine Christen hatte. Als Zeuge der Verhaftung Esthers hatte Contenson mit dem ausgezeichneten Sinn des Spions diesen Vorgang sehr richtig beurteilt. Wie man gesehen hat, hatte der Schelm sich nicht die Mühe gemacht, dem Baron von Nucingen seine Meinung zu verschleiern. »Zu wessen Nutzen brandschatzt man die Leidenschaft des Bankiers?« das war die erste Frage, die die beiden Freunde sich stellten. Als Contenson in Asien eine Mitspielerin im Stück erkannt hatte, hoffte er durch sie bis zum Verfasser durchzudringen; aber sie schlüpfte ihm eine Zeitlang durch die Finger, indem sie sich wie ein Aal im Pariser Schlamm verbarg; und als er sie in Esthers Köchin wiederfand, schien ihm die Mitarbeit dieser Mulattin unerklärlich. Zum erstenmal stießen also die beiden Künstler der Spionage auf einen unentzifferbaren Text, wenn sie auch eine dunkle Geschichte argwöhnten. Nach drei einander folgenden und verwegenen Stürmen auf das Haus der Rue Taitbout fand Contenson noch immer das hartnäckigste Schweigen. Solange Esther dort wohnte, schien der Portier von tiefer Angst beherrscht zu sein. Vielleicht hatte Asien der ganzen Familie im Fall der Indiskretion vergiftete Fleischklößchen versprochen. Am Tage, nach dem Esther ihre Wohnung verlassen hatte, fand Contenson diesen Pförtner ein wenig zugänglicher; er bedauerte den Auszug dieser kleinen Dame, die ihn, wie er sagte, mit den Resten ihrer Tafel ernährte. Contenson, der sich als Handelsagent verkleidet hatte, feilschte um die Wohnung, und er hörte die Beschwerden des Portiers an, indem er sich über ihn lustig machte und alles, was er sagte, durch ein ›Ist es möglich?‹ in Zweifel zog. »Ja, gnädiger Herr, diese kleine Dame wohnte fünf Jahre hier, ohne je auszugehen, denn ihr Liebhaber war eifersüchtig, obwohl sie sich niemals etwas zuschulden kommen ließ, und er wandte die größte Vorsicht an, wenn er kam und eintrat oder ging. Übrigens war es ein sehr schöner junger Mann.« Lucien befand sich gerade zu Marsac bei seiner Schwester, Frau Séchard; aber sowie er zurückgekehrt war, schickte Contenson den Portier auf den Quai Malaquais, um Herrn von Rubempré zu fragen, ob er bereit sei, die Möbel der von Frau Esther van Bogseck verlassenen Wohnung zu verkaufen. Der Portier erkannte in Lucien den geheimnisvollen Liebhaber der jungen Witwe, und mehr wollte Contenson nicht wissen. Man kann sich vorstellen, von welchem tiefen, wenn auch verhaltenen Staunen Lucien und Carlos erfaßt waren; es schien, als hielten sie den Portier für verrückt; sie suchten ihn davon zu überzeugen.
In vierundzwanzig Stunden hatte Carlos eine Gegenpolizei organisiert, die Contenson bei seiner Spionage auf frischer Tat ertappte. Contenson hatte schon zweimal, als Austräger der Markthalle verkleidet, Vorräte ins Haus gebracht, die Asien morgens gekauft hatte; und zweimal war er auf diese Weise in das Haus der Rue Saint-Georges eingedrungen. Auch Corentin regte sich; aber die Realität der Persönlichkeit Carlos Herreras gebot ihm halt, denn er erfuhr auf der Stelle, daß dieser Abbé, der geheime Gesandte Ferdinands VII., gegen Ende des Jahres 1823 nach Paris gekommen war. Nichtsdestoweniger mußte Corentin untersuchen, welche Gründe diesen Spanier dazu trieben, Lucien von Rubempré zu begönnern. Corentin hatte bald erkannt, daß Lucien Esther fünf Jahre lang zur Geliebten gehabt hatte; also hatte die Unterschiebung der Engländerin im Interesse des Dandy stattgefunden. Nun hatte Lucien keinerlei Subsistenzmittel, man verweigerte ihm Fräulein von Grandlieu als Frau, und er hatte soeben den Landsitz der Rubemprés für eine Million erstanden. Corentin brachte
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