Glanz
hatte den Tod ihres einzigen Kindes nicht verkraftet und ihrem Leben ein Ende gesetzt.
Es erschien mir möglich, wenn nicht sogar wahrscheinlich, dass auch ich mit aufgeschnittenen Pulsadern in meiner Badewanne gefunden werden würde – nur, dass mein |354| Tod kaum jemanden interessieren würde. Vermutlich konnte ich von Glück sagen, dass ich überhaupt noch lebte.
Ich wählte Emilys Nummer, doch nur der Anrufbeantworter meldete sich. »Paul, wenn du da bist, ruf mich bitte dringend zurück«, sprach ich aufs Band. »Emily ist in großer Gefahr.« Ich rief auch die Wohngemeinschaft an, in der Maria lebte, erfuhr jedoch von einer müden und gereizten Mitbewohnerin nur, dass sie seit Tagen nicht dort gewesen war.
Was sollte ich bloß machen? Ich hatte nicht den geringsten Beweis für eine Verschwörung. Ich wusste ja nicht mal, ob Eric noch lebte. Niemand würde mir meine Geschichte glauben. Wenn ich zur Polizei ging, würde man mich für verrückt halten. Mir blieb nur, so schnell wie möglich zurück nach Cambridge zu fahren und Eric zu suchen. Wahrscheinlich würde Dr. Ignacius bestreiten, meinen Sohn je in seiner Klinik gehabt zu haben. Gut möglich, dass er ihn längst fortgeschafft oder gar umgebracht und irgendwo verscharrt hatte.
Der Gedanke drehte mir den Magen um. Verzweiflung übermannte mich, und ich musste mich auf dem Schreibtisch abstützen. Ich holte ein paar Mal tief Luft und ermahnte mich, nicht überstürzt zu handeln. Vielleicht verhielten sich die Dinge doch ganz anders, als ich sie jetzt sah.
Nachdem ich wieder einigermaßen klar denken konnte, rief ich die Homepage der Fresh-Pond-Klinik auf. Es war eine typische Klinikwebsite, an der ich nichts Ungewöhnliches finden konnte. Wie Dr. Ignacius erläutert hatte, war die Klinik auf die Behandlung des Apallischen Syndroms spezialisiert, obwohl andere neurologische Befunde ebenfalls zu ihrem Aufgabengebiet gehörten. Auch ein Hinweis |355| auf den Orden der Suchenden nach der Heiligen Wahrheit fand sich. Ein Link führte zu einer Website des Ordens. Die Geschichte der Bruderschaft, die dort veröffentlicht war, entsprach genau dem, was Dr. Ignacius mir erzählt hatte. Auch auf Wikipedia fand ich einen Eintrag über den Orden mit ähnlichem Inhalt.
Hatte ich mich getäuscht? Gab es eine ganz andere Erklärung dafür, dass ich hier in meiner Wohnung war? Andererseits war es sehr leicht, die Website einer fiktiven Organisation zu erstellen. Wenn tatsächlich eine weitreichende Verschwörung hinter allem steckte, würden diese Leute ihre Tarngeschichte zweifelsohne durch solche öffentlich zugänglichen Dokumente untermauern.
Ich googelte den Namen des Priors, Jerry Wilson. Er war tatsächlich Abgeordneter im Repräsentantenhaus und Mitglied der Republikanischen Partei, deren rechtem Flügel er zugeordnet wurde. Er galt als konservativer Christ, aber auch als pragmatischer Politiker. Eine Verbindung zum Orden der Suchenden nach der Heiligen Wahrheit fand ich nicht. Dafür war er Mitglied in mehreren Kongressausschüssen, darunter dem Gremium, das die Geheimdienste kontrollierte.
Ich schauderte. War das die Verbindung, nach der ich suchte? Aber war sie nicht viel zu offensichtlich? Würde jemand, der eine Verschwörung des Geheimdienstes kontrollierte, mir gegenüber so offen in Erscheinung treten?
Andererseits war vielleicht gerade das ihre Methode: ein paar Tatsachen mit einer großen Portion Lügen zu einem unentwirrbaren Knoten zu verstricken, in dem sich jeder verhedderte, der versuchte, der Wahrheit auf den Grund zu gehen. Ja, wenn ich es recht bedachte, konnte ich ein Muster hinter den bisherigen Geschehnissen erkennen: Gerade weil Dr. Ignacius und dieser Jerry Wilson offen |356| agierten, waren sie umso weniger verdächtig. Wenn ich in der Öffentlichkeit behauptete, dass ein Abgeordneter der Republikaner in eine Verschwörung verwickelt war, die den Tod von Ricarda Heller verursacht hatte, würde ich mich gründlich lächerlich machen. Meine Glaubwürdigkeit wäre für immer zerstört. Wenn man dahinterkam, dass ich zu allem Überfluss auch noch eine Psychodroge genommen hatte und behauptete, in einer Phantasiewelt im Geist meines Sohnes herumgelaufen zu sein, würde man mich in die geschlossene Psychiatrie einweisen.
Genau das war es wahrscheinlich, was diese Leute wollten: mich mundtot machen, indem sie mich für verrückt erklären ließen. Irgendwann konnten sie mich dann gefahrlos endgültig zum Schweigen bringen, mich umbringen
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