Glanz
Mund, als wolle er etwas sagen, doch es kam nur ein leichter Seufzer heraus. Er hatte so lange nicht gesprochen. Er würde es vielleicht erst wieder lernen müssen. Doch was machte das schon?
|345| Er war zurückgekehrt!
Mein Blick verschwamm. Ich strich sanft über seine Wange, küsste seine Stirn. »Willkommen zurück, mein Sohn!«, sagte ich. Dann ließ ich den Tränen der Erleichterung freien Lauf.
Nach einer Weile wurde mir bewusst, dass ich nicht allein war. Das kleine Krankenzimmer war voller schwarzgekleideter Menschen. Ihre Köpfe waren gesenkt, und sie murmelten wieder unverständliche Worte – offenbar eine Art Gebet.
Einer der Mönche trat vor und klappte seine Kapuze zurück. Darunter kam das feingeschnittene Gesicht eines weißhaarigen Mannes zum Vorschein. Er kam mir irgendwie bekannt vor.
»Mein Name ist Jerry Wilson«, sagte er mit volltönender Bassstimme. Mir fiel ein, dass ich den Mann in einer Fernsehdebatte gegen Abtreibung gesehen hatte. Er war ein führender Politiker der Republikaner, soweit ich mich erinnerte. »Ich bin Abtprior des Ordens der Suchenden nach der Heiligen Wahrheit«, fuhr er fort. »Im Namen der Bruderschaft möchte ich Ihnen danken, Mrs. Demmet. Heute ist ein großer Tag für unseren Orden, für die Christenheit, ja für die ganze Menschheit!«
Ich sah ihn verständnislos an. »Wie meinen Sie das?«
Er lächelte. »Uns ist heute ein neuer Blick auf Gottes Werk zuteilgeworden. In Seiner unendlichen Gnade hat Er uns etwas offenbart, das unsere Herzen mit Jubel erfüllt! Unserem Bruder Dr. Ignacius ist die wissenschaftliche Bestätigung einer der wichtigsten Grundlagen des christlichen Glaubens gelungen: Er hat heute die Existenz der menschlichen Seele bewiesen! Diese Entdeckung ist in ihrer Bedeutung vergleichbar mit Einsteins Relativitätstheorie oder Plancks Quantenphysik. Die Fundamente |346| der Wissenschaft sind neu gelegt worden. Und Sie, Mrs. Demmet, sind gemeinsam mit Ihrem Sohn und Mrs. Morrison die Schlüsselfiguren dieser Offenbarung. Sie sind von Gott, unserem Herrn, gesegnet!«
»Sie … Sie glauben, Sie haben die Existenz der Seele bewiesen, weil Eric aufgewacht ist?«
Der Abt schüttelte den Kopf. »Nein, natürlich nicht. Sehen Sie, diese Klinik verfügt über modernste Apparate, mit denen Gehirnaktivitäten sehr genau gemessen und aufgezeichnet werden können. Aus diesen Aufzeichnungen geht eindeutig hervor, dass Ihre Gehirnströme während Ihrer Trance mit denen Ihres Sohnes und denen von Mrs. Morrison synchronisiert waren. Wir konnten nicht sehen, was in Ihren Gehirnen vorging, aber wir konnten sehen, dass Sie, Mrs. Morrison und Eric dieselben Dinge gesehen, gefühlt und erlebt haben. Es gab eindeutig eine Verbindung zwischen Ihnen. Etwas Derartiges ist nie zuvor beobachtet worden. Es gibt dafür keine andere wissenschaftliche Erklärung als die, dass Ihre Seelen direkt miteinander kommuniziert haben!«
Langsam begann ich zu verstehen. Ich hatte mich offenbar in Dr. Ignacius getäuscht. Die altertümliche Kleidung der Ordensmitglieder kam mir ein bisschen albern vor, und die Idee, etwas unbedingt wissenschaftlich beweisen zu wollen, was doch jeder Mensch intuitiv erfahren konnte – dass die menschliche Existenz mehr ist als eine zufällige Aneinanderreihung chemischer Prozesse –, erschien mir irgendwie armselig. Aber es war jetzt klar, dass mein Misstrauen gegenüber dem Arzt unbegründet gewesen war. Er hatte offensichtlich im Auftrag des Ordens aus ehrenhaften Motiven gehandelt.
»Kann ich meinen Sohn jetzt nach Hause bringen?«, fragte ich.
|347| »Wir würden uns sehr freuen, wenn Sie noch eine Weile unsere Gäste blieben«, sagte der Abt. »Dr. Ignacius ist der Ansicht, dass es besser für Eric wäre, wenn er noch eine Weile hier unter ärztlicher Aufsicht bliebe. Es wird noch etwas dauern, bis er wieder ganz hergestellt ist, und wir werden natürlich alles tun, um ihm dabei zu helfen. Die Kosten seiner Behandlung übernimmt selbstverständlich der Orden – das gilt auch für Ihren Aufenthalt hier. Ehrlich gesagt vermute ich, dass auch Sie etwas Erholung gebrauchen können. Aber es ist Ihre Entscheidung. Wir sind Ihnen zu tiefstem Dank verpflichtet, und der Orden wird Sie stets mit offenen Armen empfangen und Ihnen jede erdenkliche Hilfe zuteilwerden lassen!«
Ich nickte. »Sie haben recht. Wir brauchen etwas Ruhe. Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie mich einen Augenblick mit meinem Sohn allein lassen würden.«
Der Abt nickte.
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