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Glanz

Glanz

Titel: Glanz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl Olsberg
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geschah, musste mit den Auswirkungen der Droge zu tun haben. Ich ging zurück ins Schlafzimmer und legte mich wieder ins Bett. Vielleicht konnte ich ja einfach einschlafen und dann wieder in der Klinik in Cambridge aufwachen.
    Ich schloss die Augen, doch an Schlaf war nicht zu denken. Stattdessen sah ich Bilder vor mir – Fetzen eines Traums, den ich unmittelbar vor dem Aufwachen gehabt hatte.
    Da war ein Unfall gewesen. Ein brennendes Autowrack, das auf dem Rücken an einer Böschung lag. Eric war in diesem Auto. Ich sah sein Gesicht, an die Scheibe gepresst, wie er mich anstarrte, wie er stumm um Hilfe rief. Ich wollte ihm zu Hilfe eilen, doch etwas hielt mich fest. Flammen leckten an Erics Gesicht empor, umhüllten es wie ein grelles Tuch, bis seine Augen und sein zum Schrei geöffneter Mund nur noch dunkle Flecken waren.
    Irgendwie musste mein Unterbewusstsein die Erinnerung an den Unfall, den wir auf der Rückfahrt von Steephill nach New York gesehen hatten, mit den Erlebnissen in Erics Traumwelt vermischt haben. Ich versuchte, die schrecklichen Bilder zu verdrängen, mich zu beruhigen, doch mein Kopf dröhnte vom Hämmern meines Herzens. Nach ein paar Minuten stand ich auf und ging in die Küche, um mir einen Beruhigungstee zu machen.
    Der Tee half nicht. In meinem Kopf tobten die Gedanken weiter wie ein Schwarm Hornissen, deren Nest jemand mit Benzin übergossen und angezündet hatte. Ich |352| hätte am liebsten laut geschrien, doch ich hatte Angst vor meiner eigenen Stimme.
    Was war hier los? War ich auf irgendeine geheimnisvolle Weise immer noch in Erics Phantasiewelt gefangen? Befand ich mich in jenem erdachten New York, in dem ich ihn bereits einmal gesucht hatte? Würde ich, wenn ich morgen zum Times Square fuhr und die Hintertür eines Schnellrestaurants öffnete, wieder auf der Ebene der Tore stehen?
    Die Realität schien auf einmal zu etwas Weichem, Flexiblem geschmolzen zu sein. Es gab keinen absoluten Bezugspunkt mehr, nichts, worauf ich mich verlassen konnte.
    Ich presste die Hände an den Kopf und flehte, dass irgendwas geschehen möge, damit die Welt wieder ihre gewohnte Ordnung annahm. Doch alles, was passierte, war, dass mein Tee langsam kalt wurde.
    Je länger ich so dasaß, desto sicherer war ich, dass ich nicht träumte. Und gleichzeitig war ich überzeugt, dass auch meine Erlebnisse in der Fresh-Pond-Klinik keine Einbildung gewesen waren.
    Ich versuchte, die Sache logisch anzugehen. Angenommen, beides war real – ich saß wirklich in meiner Küche und hatte tatsächlich noch vor ein paar Stunden in Cambridge gelegen, neben mir Eric, der gerade aus dem Koma erwacht war –, dann musste ich in bewusstlosem Zustand hierher nach New York gelangt sein. Das erschien absurd, aber es war immerhin möglich: Nachdem ich eingeschlafen war, hätte mich Dr. Ignacius ohne weiteres betäuben und in einem Krankenwagen hierherbringen können.
    Aber wozu?
    Es gab nur eine Erklärung: Der Arzt hatte mich die ganze Zeit belogen. Der Mummenschanz mit den Mönchen, |353| das Gefasel vom wissenschaftlichen Beweis der Existenz der Seele waren nur Theater gewesen, ein Ablenkungsmanöver, um die wahren Absichten zu verschleiern. Ricarda Heller hatte recht gehabt: Eric war das Opfer einer gigantischen Verschwörung.
    Ricarda Heller. Die Schriftstellerin erschien mir wie ein fester Bezugspunkt im Strudel des Chaos, das mich umgab. Sie hatte mir eine Visitenkarte mit ihrer Adresse und Telefonnummer gegeben. Ich erinnerte mich, dass ich sie in die Hosentasche meiner Jeans gesteckt hatte.
    Ich ging ins Schlafzimmer. Meine Jeans hing ordentlich über einem Stuhl, als hätte ich sie vor dem Schlafengehen dorthin gelegt. Die Taschen waren leer.
    Ich setzte mich an meinen Schreibtisch und startete meinen Laptop. Als Schriftstellerin hatte Ricarda Heller sicher eine eigene Website, und mit etwas Glück würde ich dort ihre Kontaktdaten finden.
    Ich gab den Namen bei Google ein. Fassungslos starrte ich auf das oberste Suchergebnis, einen Verweis auf eine aktuelle Nachricht: »Bekannte Schriftstellerin begeht Selbstmord.«
    Ich klickte den Link an und las die Meldung mit zugeschnürter Kehle. Ricarda Heller war vor zwei Tagen mit aufgeschlitzten Pulsadern in ihrer Badewanne gefunden worden, den Magen voller Schlafmittel. Ein Abschiedsbrief war nicht aufgetaucht, aber Zeugen berichteten von »merkwürdigem Verhalten« der Schriftstellerin, nachdem ihr Sohn gestorben war. Für die Polizei und die Medien war der Fall klar: Sie

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