Glanz
Anna, die brauchen Sie.« Er lehnte sich an die Tür zu Erics Zimmer. »Ihr Sohn ist immer noch in einem kritischen Zustand. Er steht an der Schwelle zwischen Leben und Tod. Es ist unbedingt erforderlich, dass er unter ärztliche Aufsicht kommt!«
»Er ist unter ärztlicher Aufsicht«, log ich.
Dr. Ignacius ging nicht darauf ein. »Ich mache Ihnen einen Vorschlag, Anna. Kommen Sie mit ihm in meine Privatklinik nach Boston. Wir sind auf Wachkomapatienten spezialisiert. Wir haben dort neuartige Untersuchungs- und Behandlungsmethoden, mit denen wir bereits erstaunliche Erfolge erzielen konnten. Erst letzte Woche ist ein Mädchen in Erics Alter aus dem Koma erwacht. Nach elf Monaten! Sie könnten bei Ihrem Sohn im Zimmer wohnen. Sie wären rund um die Uhr bei ihm!«
Es klang verlockend, doch ich traute dem Arzt nicht. Ich schüttelte den Kopf. »Eric ist da, wo er ist, gut versorgt und betreut!«
Dr. Ignacius warf einen vielsagenden Blick auf die Reisetasche, die neben der Wohnungstür auf dem Boden stand. »Sie fahren zu ihm, nicht wahr?«
Ich sah keinen Grund, das abzustreiten. »Ja.«
Er sah mich eindringlich an. »Ich muss Sie warnen, Anna. Nehmen Sie Erics Zustand nicht auf die leichte Schulter!«
»Das tue ich ganz bestimmt nicht. Auf Wiedersehen, Dr. Ignacius. Und entschuldigen Sie bitte, dass Sie sich meinetwegen umsonst aus Boston herbemüht haben.« Ich öffnete ihm die Tür.
Er folgte meiner Aufforderung, die Wohnung zu verlassen, nur widerstrebend. Auf der Schwelle drehte er sich noch einmal um. »Bitte, Anna, überlegen Sie es sich noch mal! Ich will Ihnen wirklich nur helfen!«
»Auf Wiedersehen!« Ich schloss die Tür.
Aus dem Wohnzimmerfenster sah ich, wie er in ein Taxi stieg und davonfuhr. Trotzdem war ich nicht beruhigt. Ich hatte das starke Gefühl, dass sich um mich herum eine Bedrohung zusammenzog, dass etwas Düsteres auf mich lauerte.
Ich schüttelte den Kopf, um ihn freizubekommen. Die Strapazen und die Sorge um Eric brachten mich einfach durcheinander. Das Beste war es, sich auf die nächsten Schritte zu konzentrieren.
Aus einem unerklärlichen Gefühl heraus schreckte ich davor zurück, mit dem Taxi zu Emily zu fahren. Ein eigenes Auto besaß ich nicht – in Manhattan sind Parkplätze so teuer, dass man dafür jeden Monat eine Menge Taxifahrten machen kann, und wenn ich mal eine längere Strecke mit dem Auto fahren musste, nahm ich mir einen Mietwagen. Also blieben mir nur die öffentlichen Verkehrsmittel.
Während ich zu Fuß zur U-Bahn-Station an der First Avenue ging, hatte ich das Gefühl, verfolgt zu werden. Ich wandte mich ein paar Mal abrupt um, doch ich konnte niemanden entdecken. In der U-Bahn musterte ich die übrigen Fahrgäste misstrauisch. Ich wechselte zwei Mal abrupt die Linie und fuhr absichtlich einen Umweg. So dauerte es über eine Stunde, bis ich endlich Emilys Wohnung erreichte.
»Bist du aufgehalten worden?«, fragte sie.
»Ja.« Ich erzählte ihr von der Begegnung mit Dr. Ignacius.
»Er scheint sich ja wirklich sehr für Erics Fall zu interessieren«, bemerkte Emily.
»Er ist wohl Spezialist für Wachkomapatienten«, sagte ich. »Deshalb hat Dr. Kaufman ihn hinzugezogen.«
»Mag sein. Trotzdem finde ich es ungewöhnlich, dass er jede Woche extra aus Boston nach New York kommt, um ihn zu untersuchen. Und dass er dich zu Hause besucht.«
Ich zuckte mit den Schultern. Auch ich fand die aufdringlich-freundliche Art des Arztes vage beunruhigend. Doch das Thema war ja nun erledigt. »Wollen wir es wieder versuchen?«, fragte ich.
Emily nickte. Wir nahmen jede eine Kapsel, warteten einen Moment, bis Emilys Wohnung in unserer Wahrnehmung heller und freundlicher wurde und schließlich in warmem Glanz erstrahlte. Dann legten wir uns neben Eric auf das Bett und schlossen den Kreis.
15.
Ich befinde mich nicht mehr in der Knochenhöhle, in der ich der Ersten Mutter begegnet bin. Stattdessen liege ich im Sand. Über mir wölben sich
die gigantischen Rippenbögen in den Himmel. Eine große Menge der Affenwesen steht um mich herum, doch sie machen kein Geschrei, sondern
betrachten mich schweigend.
»Eric?«, rufe ich erschrocken. Etwas Kaltes presst meine Brust zusammen. »Eric!«
Die Affenwesen sehen mich nur stumm an.
»Wo ist mein Sohn?«, schreie ich. »Was habt ihr mit ihm gemacht, verdammt noch mal?« Ich rappele mich auf.
Da die Affenwesen mir nur bis zur Brust reichen, kann ich über ihre Köpfe sehen. Mindestens tausend von ihnen sind hier am Fuß des
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