Glanz
uns allein. Hinter ihm begann sich der Himmel aufzuhellen. Ich sah auf die Uhr: Kurz nach fünf.
Maria untersuchte Eric, wie sie es regelmäßig tat: Sie fühlte seinen Puls, maß den Blutdruck, horchte seine Lungen mit einem Stethoskop ab, leuchtete mit einer kleinen Stablampe in seine Augen.
Als sie sich zu uns umwandte, war ihr Gesicht ernst. »Ich glaube, er wird schwächer.«
Ich beugte mich über Eric, konnte aber keinen Unterschied feststellen. »Bist du sicher?«
»Sein Blutdruck und seine Herzfrequenz sind kontinuierlich gefallen, seit wir ihn aus dem Krankenhaus geholt haben. Sie nähern sich einer kritischen Grenze.«
»Kann man dagegen nicht was machen? Ein Medikament geben oder so?«
Maria schüttelte langsam den Kopf. Mir schien, dass sie damit weniger ein Nein zum Ausdruck bringen wollte als vielmehr ihr Unverständnis über meine Uneinsichtigkeit. »Ich bin keine Ärztin. Ich kann keine Rezepte ausstellen und habe auch nicht das nötige Fachwissen dafür. Eric muss zu einem Arzt, und zwar so schnell wie möglich! Am besten, in ein Krankenhaus.«
»Das geht nicht!«, rief ich. »Du weißt genau, dass uns Dr. Ignacius dann sofort aufspürt. Er wird einen Weg finden, um ihn …«
Maria sprang auf. »Jetzt hör endlich auf mit dieser dämlichen Verschwörungstheorie! Dr. Ignacius ist nichts anderes als ein verantwortungsbewusster Arzt, der spürt, dass du in deinem Eifer, deinem Sohn zu helfen, einen schweren Fehler machst!«
Ich dachte an den brennenden Mann und schauderte. Ich wandte mich hilfesuchend an Emily. »Wir können jetzt nicht aufgeben. Wir sind doch ganz kurz davor, ihn wiederzufinden und zum Tor des Lichts zu bringen!«
»Sind wir das?«, fragte Emily. Doch sie nickte. »Wir machen noch einen Versuch. Dann sehen wir weiter.«
Marias Gesicht färbte sich rot vor Zorn. Ihre Augen schienen im schwachen Licht zu glühen »Ihr … ihr seid beide …« Sie verschluckte den Rest des Satzes. »Lasst uns wenigstens vorher frühstücken. Ich hab keine Lust, dass ihr am Ende genauso an Entkräftung draufgeht wie Eric.«
Ihre Worte lagen in der Luft wie ein schlechter Geruch. Emily und ich sahen uns an. Dann nahmen wir jeder eine Glanz-Kapsel, und bald wurde mein Zorn durch das wohlige Gefühl der Stärke und Zuversicht ersetzt, das die Droge in mir auslöste. Ich hatte plötzlich Verständnis für Marias Zorn und empfand große Sympathie für sie. Doch sie teilte das Gefühl offensichtlich nicht.
Wir aßen zum Frühstück kalte Bohnen aus der Dose, kräftiges Brot mit Butter und Schinken und Äpfel, die uns Tante Jo eingepackt hatte. Ich wusste nicht, ob es an der Droge lag, aber das einfache Mahl schmeckte mir hervorragend.
Nachdem wir abgeräumt hatten, legte ich mich zu Eric aufs Bett. Die Droge rann durch meine Adern wie warmes Gold. Ich hörte die Vögel im Wald, die die Morgensonne begrüßten, und hatte das Gefühl, ihren Gesang zu verstehen.
Ein Krächzen erklang.
Ich fuhr hoch. Vor dem Fenster über dem Bett, nur eine Armlänge von mir entfernt, saß eine Krähe auf einem niedrigen Ast und starrte mich an.
Ich sprang auf und schlug mit der flachen Hand gegen die Scheibe. Die Krähe erschrak, breitete die Flügel aus und erhob sich in die Luft. Daraufhin erklang vielstimmiges Krächzen über der Hütte. Ich riss das Fenster auf und sah im Licht der einsetzenden Morgendämmerung einen großen Krähenschwarm, der über dem Wald kreiste.
»Verschwindet!«, brüllte ich. »Haut ab und lasst mich in Ruhe!«
Ich schloss das Fenster und blickte in die Gesichter meiner Begleiterinnen. Während Emily eher amüsiert wirkte, war Marias Gesicht sorgenvoll. Sie wandte sich ab und öffnete die Tür. »Ich gehe ein bisschen spazieren. Viel Spaß!« Der Klang ihrer Stimme erinnerte mich an Erics Trotzphase im Alter von etwa vier Jahren.
Emily und ich sahen uns an. »Sie wird sich schon wieder beruhigen«, sagte sie. Ich nickte.
Wir schlossen den Kreis.
30.
Ich liege auf Erics Bett. Die Digitalanzeige an seinem Wecker zeigt kurz nach sieben Uhr morgens.
Ruckartig setze ich mich auf. Ich trage wieder das schwarze Gewand. Offenbar war der Teil, in dem ich in meinem eigenen Bett aufwachte und
Eric wieder da war, tatsächlich nur ein ganz normaler, wenn auch ungewöhnlich lebhafter Traum.
Wie in jenem Traum gehe ich unter die Dusche und ziehe mir Jeans, ein T-Shirt und eine leichte Jacke an, dazu Turnschuhe. Mein Portemonnaie liegt
auf dem Nachtschrank. Es enthält knapp hundertfünfzig
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