Glashaus
Irgendwann, ohne jede Einleitung, murmelt er: »Ich wusste fast von Anfang an, wer du bist.«
Statt irgendetwas zu erwidern, streiche ich ihm nur über die Wange.
»Hab es innerhalb einer Woche herausbekommen. Ständig hast du über diese Freundin gesprochen, nach der du hier drinnen Ausschau halten solltest. Du dachtest, es sei Cass.«
Ich streichle ihn weiter, nicht zuletzt, um mich selbst zu beruhigen.
»Anfangs war ich schockiert, glaube ich. Vorher wirktest du so voller Schwung, Selbstsicherheit und Selbstbeherrschung. Es war ja schon schlimm genug, als ich in jenem Raum aufwachte und merkte, dass ich in diesem monströsen, aufgeblähten, plumpen Körper stecke. Aber dann auch noch dich in diesem neuen Körper zu entdecken, hat mir wirklich Angst eingejagt. Zuerst dachte ich, ich hätte mich geirrt, aber so war es nicht. Also hab ich den Mund gehalten.«
Ich höre auf, ihn zu streicheln, lege nur eine Hand auf seine Schulter und die andere an seinen Kopf.
»Am zweiten Tag hätte ich mich beinahe umgebracht, aber du hast das nicht mal bemerkt.«
Scheiße. Ich kneife die Augen zusammen. »Ich war mit meinen eigenen Problemen beschäftigt«, bringe ich mühsam hervor.
»Ja, jetzt versteh ich das.« Seine Stimme klingt sanft, fast schläfrig. »Aber eine Zeit lang konnte ich dir das nicht verzeihen. Ich hab so was schon mal erlebt, weißt du. Nicht direkt das hier, aber der Ort war so ähnlich wie dieser.«
»Bei den Eisdämonen?«, frage ich, ehe ich mir auf die Zunge beißen kann.
»Ja.« Er spannt sich an und richtet sich auf. »Ein ganzer Planet voller intelligenter Wesen, die sich noch in der Phase vor der Beschleunigung befinden. Und sie werden ohne Hilfe von außen wahrscheinlich nicht überleben, denn sie haben sich derart lange nur mit ihrer eigenen primitiven Technologie über Wasser gehalten, dass ihnen mittlerweile die leicht zugänglichen fossilen Brennstoffe ausgegangen sind.« Er schwingt die Beine herum und setzt sich aufrecht hin, neben mich, aber gerade so weit weg, dass ich ihn nicht berühren kann. »Sie leben, zeugen Nachkommen und sterben an Altersschwäche. Manchmal tragen sie auch Kriege aus oder sterben an Hungersnöten, Katastrophen oder Epidemien.«
»Wie lange, sagtest du, hast du dort gelebt?«
»Zwei Gigs.« Er dreht den Kopf und sieht mich direkt an. »Ich war Teil einer, einer … Ich nehme an, du würdest es eine reproduktive Einheit nennen. Teil einer Familie. Ich war tatsächlich ein Eisdämon, musst du wissen. Von meiner späten Jugend bis ins hohe Alter hab ich dort gelebt. Aber da ich nicht gepflegt werden wollte, bin ich lieber in die Tundra hinausgerannt und hab über meine Netzverbindung um ein Uploading gebeten. Ich war schon fast zu spät dran, denn ich war todkrank, und es hätte nicht mehr lange gedauert, bis ich vollständig ans Bett gefesselt gewesen wäre.«
Sam wirkt sehr weit weg.
»Alle uns bekannten, mit Intelligenz begabten Wesen, die sich noch vor der Epoche der Beschleunigung befinden und nur einfache Werkzeuge benutzen, verwenden Reproduktionsstrategien des K-Typs. Ich hatte meine Partner überlebt, hatte jedoch drei Kinder um mich herum, außerdem deren diverse Cis- und Trans -Gefährten - gleichgeschlechtliche und andersgeschlechtliche Partner - und mehr Enkel als …«
Er seufzt.
»Offenbar möchtest du, dass ich es erfahre«, werfe ich ein. »Aber bist du dir da auch sicher?«
»Ich weiß es nicht.« Er sieht mich an. »Ich wollte nur, dass du weißt, wer ich bin und woher ich komme.« Er blickt auf die Steine zwischen seinen Füßen. »Es geht nicht um das, was ich jetzt bin, denn das ist eine Travestie. Ich fühle mich wie besudelt.«
Ich stehe auf, denn er hat sich meiner Meinung nach lange genug in seinem Elend gesuhlt. »Also gut, wenn ich dich richtig verstanden habe, bist du demnach ein ehemaliger Experte für fremde Vögel, der seinen Studienobjekten viel näherkam, als es seinem inneren Gleichgewicht guttat. Du kommst mit deinem Selbstbild nicht klar, und Yourdon, Fiore und Hanta haben das in ihrem mehr als schlampigen Aufnahmefragebogen nicht feststellen können. Du bist gut darin, dich selbst und andere zu verleugnen, und als Selbstmörder ein jämmerlicher Versager.« Ich starre ihn an. »Hab ich was ausgelassen?« Ich greife nach seinen Händen. »Was hab ich übersehen?«, brülle ich ihn an.
An diesem Punkt angelangt, werden mir mehrere Dinge klar. Erstens: Ich bin wirklich überaus wütend auf ihn, auch wenn das bei Weitem
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