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Glashaus

Titel: Glashaus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charles Stross
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sehr ich diese Leute inzwischen hasse, stellt eine gute Möglichkeit für mich dar, der Auseinandersetzung mit den Geschehnissen heute Morgen an der Kirche auszuweichen. Es lenkt mich auch wunderbar von der Wand in meinem Kopf ab, mit der ich vorhin zusammengestoßen bin, von der geheimnisvollen Tür im Tunnel und all der anderen Scheiße, die passiert ist, seit ich heute früh aufgewacht bin. Und dabei hatte ich bloß mit einem weiteren langweiligen Sonntag gerechnet.
    Nach meinem Zeitgefühl sind nur wenige, unendlich angespannte Minuten vergangen, als ich die Garage verlasse. (Allerdings behauptet die verlogene Uhr hartnäckig, es seien fast vier Stunden gewesen.) Der heiße morgendliche Sonnenschein ist dem milden rosaroten Leuchten des Spätnachmittags gewichen, und unter einem türkisfarbenen Himmel summen Insekten. Offenbar habe ich einen idyllischen Sommernachmittag verpasst. Ich fühle mich zitterig, erschöpft und wirklich ausgehungert. Außerdem schwitze ich wie ein Schwein und stinke wahrscheinlich. Von Sam ist nichts zu sehen, also gehe ich ins Haus, stürme ins Badezimmer, lasse meine Klamotten fallen und drehe die Dusche voll zu einem kühlen Schauer auf, bis der ganze Dreck weggespült ist.
    Nach der Dusche krame ich so lange in meiner Garderobe herum, bis ich ein leichtes Sommerkleid gefunden habe, und mache mich danach auf den Weg nach unten, um mir irgendetwas zu essen zu suchen. Vielleicht ein Fertiggericht, das ich in der Mikrowelle nur aufwärmen muss und dann auf der hinteren Veranda essen kann, während die künstliche Sonne untergeht. Stattdessen renne ich in Sam hinein, der gerade durch die Vordertür kommt. Er sieht abgespannt aus.
    »Wo bist du gewesen?«, frage ich. »Ich wollte gerade was zu essen machen.«
    »Ich war mit Martin, Greg und Alf zusammen auf dem Kirchhof.« Ich sehe ihn genauer an: Sein Hemd hat Schweißflecken, und unter seinen Fingernägeln klebt Dreck. »Um sie zu begraben.«
    »Begraben?« Einen Moment lang verstehe ich nicht, wovon er redet, bis es plötzlich klick macht und mir so schwindlig wird, als wolle sich die ganze Welt um mich drehen. »Die … Du hättest es mir sagen sollen.«
    »Du warst beschäftigt.« Er tut es mit einem Achselzucken ab.
    Ich mustere ihn besorgt. »Du siehst müde aus. Warum gehst du dich nicht duschen? Ich mach dir inzwischen was zu essen.«
    Er schüttelt den Kopf. »Hab keinen Hunger.«
    »Doch, hast du.« Ich greife nach seinem rechten Arm und führe ihn zur Küche. »Du hast auch mittags nichts gegessen, es sei denn, du hast dir heimlich was reingeschoben, als ich nicht hingeguckt hab, und es wird allmählich spät.« Ich hole tief Luft. »War’s sehr schlimm?«
    »Es war …« Er gerät ins Stocken und atmet tief durch. »Es war …« Anstatt weiterzureden, bricht er in Tränen aus.
    Ich bin mir völlig sicher, dass Sam schon früher mit dem Tod konfrontiert war, ganz aus der Nähe und persönlich. Er ist mindestens drei Gigasekunden alt, hat sich einem Eingriff in seine Erinnerungen unterzogen, die damit einhergehende psychopathische Dissoziation erlebt und sich in der postoperativen Phase mit duelliersüchtigen Idioten wie mir herumgetrieben. Außerdem hat er unter Aliens gelebt, die von Technologie noch nichts wussten und für die ein gewaltsamer Tod und Krankheiten zu den unvermeidlichen Widrigkeiten des Lebens gehörten. Allerdings besteht ein gewaltiger Unterschied zwischen den Auswirkungen eines halb formalisierten Duells, das zwei Erwachsene einvernehmlich miteinander austragen (wobei die Back-ups der Assembler-Tore dafür sorgen, dass einem die Wiederbelebung nur leichtes Kopfweh bereitet), und den Aufräumarbeiten nach einem willkürlichen, sinnlosen Akt der Brutalität auf einem Kirchhof.
    Mal abgesehen davon, dass es in diesem Gemeinwesen keine Back-ups und zweite Chancen gibt. Niemand wird hier nach Hause zurückkehren, sich dabei den Kopf kratzen und fragen, was in den zwei Kilosekunden seines Lebens passiert sein mag, die ihm gerade abhanden gekommen sind. Der Unterschied liegt darin, dass es genauso gut einen selbst hätte treffen können . Denn letztendlich weiß man nur eines ganz sicher: Hätte die Kröte auf der Kanzel den Namen verwechselt, wäre man selbst da oben in den Ästen erstickt und hätte sich am Ende eines Seils gewunden. Dass dieser Kelch an einem vorübergegangen ist, stellt nichts anderes als eine Laune des Schicksals dar. Sam ist soeben aus dem Krieg heimgekehrt und hat die Lektion zweifellos

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