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Glashaus

Titel: Glashaus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charles Stross
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anzuleiten, der bedeutende Fortschritte erkennen lässt.« Piccolo-47 hält kurz inne. »Ich würde gern eine Bitte äußern, die du aber auch ausschlagen kannst.«
    »Hm?« Ich starre auf den Rücken der Drohne, der den Betriebsmechanismus birgt. Er ähnelt einerseits einem schillernden Blumenkohl, der sich hebt und senkt, aufschimmert und atmet, andererseits aber auch einer liegenden, nach außen gestülpten Lunge, die elektrolytisch arbeitet und mit Titan überzogen ist. Auf faszinierende Art wirkt sie ganz und gar unmenschlich. Es ist eine makroskopische Nanomaschine, so komplex, dass sie fast ein Eigenleben zu besitzen scheint.
    »Du hast gesagt, die Patientin Kay habe dir gegenüber das Yourdon-Experiment erwähnt. Der Geschichtsprofessor Yourdon ist ein Kollege, mit dem ich zusammenarbeite, und Kay hat völlig recht: Der ziemlich weit reichende Eingriff in deine Erinnerungen legt nahe, dass du dich hervorragend für dieses Projekt eignen würdest. Außerdem glaube ich, dass die Teilnahme deinen Genesungsprozess auf lange Sicht unterstützen könnte.«
    »Nun ja.« Mir entgeht es durchaus nicht, wenn mich jemand über den Tisch ziehen will. »Du musst mir schon mehr darüber erzählen.«
    »Selbstverständlich. Kann das einen Moment warten?« Mir ist klar, dass Piccolo-47 auf QuickTime-Modus umgeschaltet hat und jemandem eine Nachricht schickt, denn die Aufmerksamkeit der Drohne ist jetzt auf anderes gerichtet. Ich sehe, dass die Peripheriesensoren nicht mehr auf einen Punkt konzentriert sind und der zugrunde liegende Betriebsmechanismus nicht mehr schimmert. »Ich habe mir erlaubt«, erklärt Piccolo-47, »dem Koordinationsbüro dein öffentlich zugängliches Patientenprofil zu übermitteln, Robin. Das Experiment, das ich erwähnt habe, ist ein interdisziplinäres Projekt, das von den Abteilungen Archäologie, Geschichte, Psychologie und Angewandte Sozialwissenschaft des Scholastiums gemeinsam durchgeführt wird. Professor Yourdon fungiert dabei als verantwortlicher Koordinator. Falls du als Freiwilliger daran teilnehmen möchtest, wird eine Kopie deines nächsten Back-ups - oder auch dein Original, falls du dich mit Haut und Haar darauf einlassen willst - unverzüglich als separate Einheit in eine experimentelle Gemeinschaft eingefügt. Dort wird deine Verkörperung - oder dein Ich - dreißig bis hundert Megasekunden lang mit rund hundert anderen Freiwilligen zusammenleben.« Das entspricht ein bis drei Jahren der alten Zeitrechnung.
    »Die Gemeinschaft ist als ein Experiment angelegt, bei dem gewisse psychologische Zwänge erforscht werden sollen - Zwänge, die man gemeinhin mit dem Leben vor den Zensurkriegen verbindet. Mit anderen Worten: Es handelt sich um den Versuch, eine Kultur zu rekonstruieren, von der wir nur noch wenig wissen.«
    »Also ist es ein gesellschaftliches Experiment?«
    »Ja. Über viele Epochen in unserer Geschichte haben wir nur begrenztes Material. Seit Beginn des Zeitalters der mit Empfindungen begabten Maschinerie sind allzu oft mittelalterliche Zustände eingerissen. Manchmal ohne jede Absicht. Die Schlimmste der dunklen Epochen, kurz vor Beginn des Zeitalters empfindungsbegabter Maschinen, resultierte aus der Unfähigkeit der Menschen, eine auf Informationen basierende Volkswirtschaft zu verstehen. Folglich übernahmen sie Formate der Datenpräsentation, die mit dieser Wirtschaftsform nicht vereinbar waren. Manchmal wurden solche mittelalterlichen Zustände aber auch bewusst herbeigeführt, etwa in den Zensurkriegen. Insgesamt läuft es darauf hinaus, dass über lange Epochen unserer Geschichte fast nur verzerrte Informationen vorliegen - verzerrt durch die Brille der Beobachter. Die politische Propaganda, die Unterhaltungsprogramme und unser Selbstverständnis wirken so zusammen, dass wir keine akkuraten Beschreibungen erhalten. Und die mit unserer hohen Lebenserwartung verbundene Notwendigkeit, uns von Zeit zu Zeit von Erinnerungen zu befreien, beraubt uns der subjektiven Erfahrung. Deshalb zielt Professor Yourdons Experiment darauf ab, die Entwicklung sozialer Beziehungen in einer Frühkultur des Zeitalters empfindungsbegabter Maschinen zu erforschen, von der wir heute kaum noch etwas wissen.«
    »Ich hab’s kapiert, glaube ich.« Ich scharre mit den Füßen auf den Steinstufen herum und lehne mich gegen den Brunnen. Die Stimme von Piccolo-47 trieft vor schleimigen Beruhigungsversuchen. Ich bin mir ziemlich sicher, dass die Drohne mich mit Wohlfühl-Pheromonen einnebelt, doch

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