Glattauer, Daniel
verzichten
wollte. Außerdem war sein Bett zu leer, um nicht schlafen zu können, wie er es
bereits gewohnt war; so schlief er schlecht und träumte depressiv. Am fünften
Tag suchte er Kurt II. Am sechsten Tag fand er ihn. (Am Abend des sechsten
Tages schrieb er für »Horizonte« zum vierten Mal »In den Wind gesabbert«.)
Der
Kynologenverband hatte ihm Zugang zum »Verein der Freunde des
Deutsch-Drahthaar« verschafft. Schon die Menschen dort ähnelten Kurt I optisch
sehr. Bei den Hunden war die Übereinstimmung noch größer: Jeder von ihnen
konnte Kurt sein. Fünf Exemplare waren gerade auf »Herrl-Suche«. Zwei
schliefen fest, einer döste, einer gähnte. Und einer - auch er schien zunächst
zu schlafen und Max glaubte bereits, den »Verein der Freunde des
Deutsch-Drahthaar« als Valium-Sekte entlarvt zu haben -, dieser fünfte startete
aus flacher Bodenlage senkrecht in die Höhe, biss sich im Flug in den Schwanz
und landete offenbar zu seiner eigenen größten Überraschung hellwach auf vier
Pfoten, ein Phänomen, von dem er sich minutenlang nicht erholte. »Das ist
Mythos, er kommt aus Kreta«, meinte der Züchter. »Nein, das ist Kurt und er
kommt zu mir«, entgegnete Max triumphierend.
Die
Geschichte nähert sich ihrer zweiten Tragödie. Kurt II alias Mythos und von nun
an für immer Kurt war am Tag des Erwerbs von einer Biene gestochen worden. Der
steile Sprung war sein erster und letzter, ein einmaliges Kunststück, sein
einziges kräftiges Lebenszeichen. Ab diesem Zeitpunkt bewegte er sich wie
Kretas Ureinwohner um zwei Uhr mittags im Juli: nicht.
Die vierte
Kolumne »In den Wind gesabbert« schien noch einmal den alten Kurt wachzurufen:
»Wie Kurt zum Himmel steigt und wie ein Komet zur Erde zurückkehrt.« Für Max
war das ein wehmütiger Nachruf, für die Leser der vierte Teil einer glanzvollen
hundeathletisch-humoristischen Serie. Den fünften Teil - »Wie selbst Kurt
einmal zur Ruhe kommt« - verzieh man ihm gerade noch; jeder Kolumnist hat
einmal einen Hänger. Nach dem sechsten Teil - »Wie Kurt mit geschlossenen Augen
von Bungeejumping träumt« - rief ihn der Chef zum ersten Mal zu sich. Nach dem
siebenten Teil - »Und Kurt bewegt sich doch« - rief ihn der Chef zum letzten
Mal zu sich. Er erklärte ihm, dass Journalismus etwas mit Leben zu tun habe und
dass »In den Wind gesabbert, Teil sieben« der letzte in »Horizonte«
erschienene Teil gewesen sei. Im selben Atemzug lobte er Max als tüchtigen
Polizeireporter.
Max
kündigte am gleichen Tag und blieb die nächste Zeit zu Hause. Dort hatte Kurt
bereits kampflos den Platz unter seinem Sessel erobert. Sie sprachen nicht viel
miteinander. Wenn Max unbedingt Gassi gehen wollte, trottete Kurt eben mit.
Täglich
langten drei Fan-E-Mails weniger ein. Nach zwei Wochen schrieb keiner mehr.
Nach drei Wochen erhielt Max ein zu diesem Zeitpunkt bereits überraschendes Angebot
von »Leben auf vier Pfoten«, dem vermutlich unbekanntesten Tiermagazin der
Welt. Dort suchten sie einen Kolumnisten für »Treue Augenblicke«. Sie hatten an
Max und Kurt gedacht. Das Herrl sollte wieder seinen lustigen Hund beschreiben.
Dafür gebe es auch ein kleines Honorar. Max war gerührt und willigte sofort
ein.
Das war
vor eineinhalb Jahren. Von diesem Zeitpunkt an beschrieb er jede Woche die
Bewegungsabläufe eines regungslosen Deutsch-Drahthaar. Er hatte sich
sicherheitshalber noch nie gefragt, warum und für wen er das eigentlich tat.
Vermutlich für Franz von Assisi.
Bis
Montagnachmittag hatte sich der Nebel nicht aufgelöst. Max war mit »Treue
Augenblicke« fertig. Die Folge beschrieb einen Spaziergang mit Kurt im
Nieselregen, die mit Abstand größte Aufregung der vergangenen Woche, denn Kurt
war einer Pfütze ausgewichen.
Vor dem
Verlassen des Büros überflog Max die eingelangten Mitteilungen in seiner
Mailbox. Fünf Leser hatten auf sein Weihnachtsangebot, Kurt zu nehmen,
reagiert. Vier fragten an, warum Kurt Kurt hieß, ob er den Namen der
Hundekolumne »In den Wind gesabbert« verdanke und ob Kurt denn ähnlich
ausgeflippt unterwegs sei wie der legendäre Kurt aus »Horizonte«. Die fünfte
Meldung lautete: »Ich mag keine Hunde, aber ich glaube, ich würde ihn nehmen.
Er muss mich nur halbwegs in Ruhe lassen. Und ich will ihn vorher sehen. Gruß.
Katrin.« Diese E-Mail beantwortete Max sofort, denn er hatte das Gefühl, die
beiden würden gut miteinander harmonieren. Er schrieb: »Sie können den Hund
jederzeit sehen. Sagen Sie mir wann und wo.
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