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Glattauer, Daniel

Glattauer, Daniel

Titel: Glattauer, Daniel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Der Weihnachtshund
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Es war nicht die physische Übelkeit, die
er kannte, aber es hatte den gleichen Ursprung. Es begleitete ihn zu seinen
schlimmsten Albträumen zurück, erinnerte ihn an das ständig wiederkehrende
grauenhafte Erlebnis. So nah wie jetzt war er ihm noch nie gekommen. Der
Brechreiz war ausgeblieben, zu viele stärkere Eindrücke blockierten sein
Gehirn.
    Seine
Augen waren jetzt frei. Eine schlimme Vorahnung ließ ihn sie noch eine Weile
geschlossen halten. Dann öffnete er sie einen Spalt und sah ... Das waren
keine mandelförmigen Augen. Katrin hatte doch mandelförmige Augen, oder? Sie
hatte keine blond gesträhnten Haare, kein breites Gesicht, keine gedrungene
Nase.
    Die Frau
war nicht Katrin. Sie war eine andere, eine fremde. Sie drückte ihn fest an sich
und küsste gierig und stürmisch. Max war zu geschockt, um sich sofort von ihr
abzustoßen. Katrin stand neben ihm. Sie legte ihm ihre Hand auf die Schulter.
Und dahinter, die Medizinfrau, das war Paula. Ihre Augen leuchteten. Sie hatte
Regie geführt, das wusste Max sofort. Was war das für ein Spiel? Machten sie
sich einen Spaß mit ihm? Nein, dazu trugen sie zu ernste Mienen.
    Der Kuss
ging mit einem Schnalzgeräusch aus ihrem Mund zu Ende. Max war zu verblüfft, um
Ekel zu verspüren. Die Frau war nicht fremd. Er hatte sie schon einmal
gesehen. Sie hatte ... diese Lippen, die gleichen Lippen. Es waren die Lippen
zu dem Foto. Das Foto zu ... Er hatte sie schon einmal geküsst.
    »Lisbeth Willinger,
sehr erfreut«, sagte sie und wischte sich, wie nach beendeter Mahlzeit, den
Mund mit dem Handrücken ab. »Bravo Max«, rief Paula kühl wie die Chefchirurgin
nach einem gelungenen Eingriff und klatschte in die Hände. Katrin umarmte ihn.
Sie nahm seinen Kopf wie eine Mutter, dessen Kind sich eine schlimme Beule geholt
hatte.
    »Sehen
Sie, er hat's gar nicht gemerkt!«, jubilierte Lisbeth Willinger. »Und damit
habe ich mir tatsächlich den Flug verdient?«, fragte sie. »Das finde ich
großartig, so etwas ist mir noch nie passiert. Dabei hat es mir Spaß gemacht,
ehrlich! Was glauben Sie, wenn das mein Mann erfährt! Wo sind die Malediven?
Wie viele Stunden habe ich noch? Wenn Sie wieder einmal jemanden brauchen ...«
- Paula brachte sie zur Tür.
     
    Kurt lag
unter seinem Sessel und tat so, als würde er schlafen. Es war spät genug, um
ans Wachsein zu denken. Er wartete, bis die Lichter ausgingen. Er wartete, bis
Max im Bett lag. Er wartete - und das war neu -, bis Max und Katrin im Bett
lagen. Er musste - und das war neu - länger warten als sonst. Es war - und das
war neu - nicht sofort ruhig im Bett. Aber die Geräusche störten ihn nicht. Sie
hinderten ihn nicht zu tun, was zu tun war. Sie würden irgendwann verstummen.
Dann hatte er den Rest der Dunkelheit für sich, wie immer.
    Er tat es
vermutlich, seit es ihn gab. Er hatte die Nächte nicht gezählt, die er
durchgemacht hatte, die er »davor« verbracht hatte. Langweilig? Niemals.
Einschläfernd? Keinesfalls. Es war eine Spannung, die nicht nachließ. Ein Warten,
das stets belohnt wurde, regelmäßig, pünktlich auf die Minute. Wer wollte Kurt
erzählen, wie lange eine Stunde dauerte? Niemand auf der Welt konnte besser als
er wissen, wann sie sich anschickte zu schlagen.
    Er kroch
unter seinem Sessel hervor, setzte sich auf die Hinterpfoten und wartete. Es
war die schönste Haltung, die er einnehmen konnte. Hundezüchter würden feine
Preise dafür hergeben. Andere Deutsch-Drahthaar-Rüden schafften ein so
vorbildlich hohles Kreuz nicht einmal in Aussicht auf eine Doppelportion Boeuf
Stroganoff. Kurt hatte edlere Motive. Er saß da und erbettelte die nächste Stunde.
Er tat es stündlich, immer wieder aufs Neue, Nacht für Nacht.
    Plötzlich,
aus dem Nichts heraus, knirschte die Wand, dann ging die Tür auf und dann
traten sie heraus, seine fünf kretischen Freunde, seine Landsleute. Da erschrak
er, wie immer. Es war, wenn die Ruhe punktgenau in die Gewissheit überging,
dass geschehen musste, was zu geschehen hatte, weil Kurt da war, um dem
Schauspiel beizuwohnen, um die Zeremonie abzusegnen, um der Wanduhr die Zeit
abzunehmen.
    Die Helden
freuten sich, wie immer, dass Kurt für sie da war. Sie begrüßten ihn mit ihren
Folgetonhörnern. Er munterte sie mit einem angedeuteten Flüstergebell auf. Sie
drehten sich dreimal im Kreis, schlugen dreimal auf ihre Trommeln,
verabschiedeten sich und schritten zurück in ihr Uhrengehäuse. Er schickte
ihnen ein paar abgedämpfte Winselsequenzen nach.
    Etwa

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