Glaub an das Glueck, Annabelle
tief Luft und lief Annabelle hinterher. Sie war viel schneller, als er es ihr je zugetraut hätte. Offensichtlich wollte sie nur von ihm weg. Anstatt auf dem Trampelpfad zu bleiben, brach er grimmig durchs Unterholz des zugewucherten Wäldchens, um sie so schnell wie möglich einzuholen.
Dann sah er sie plötzlich. Das blonde Haar wehte wie eine lichte Fahne hinter ihr her. Seine Beine waren länger, seine Schritte ausholender, und seine Lunge hatte mehr Volumen. Deshalb holte er Annabelle ein, kurz bevor sie den Waldgürtel auf der anderen Seite verlassen konnte und zog sie mit sich hinaus ins Helle, wo die Sonne schien.
„Lass mich gehen!“
„Nein“, sagte er rau und hielt sie fest, obwohl sie sich wie wild wehrte. Annabelle fauchte wie eine Katze und trat um sich, bis Stefano sie zu einem Feld voller Wiesenblumen zerrte und einfach mit dem Gewicht seines Körpers zu Boden drückte. Ihre schmalen Handgelenke hielt er mit einer Hand über ihrem Kopf zusammen. Doch wenn er gehofft hatte, sie damit ruhig zu stellen, hatte er sich getäuscht. Das erhitzte Gesicht halb von silberblonden Strähnen verdeckt, spuckte Annabelle immer noch Gift und Galle.
So nah, wie er ihr jetzt war, konnte Stefano jedes grausame Detail der scharlachroten Narbe sehen. Doch das war es nicht, was ihn entsetzte, sondern die nackte Angst in Annabelles Blick.
„Was willst du denn noch?“, schrie sie ihn an. „Warum macht es dir so einen Spaß, mir wehzutun?“
„Das will ich am allerwenigsten! Ich will dir helfen, verdammt!“, gab er genauso heftig zurück.
„Das kannst du nicht.“ Erneut strömten Tränen über ihre Wangen. „Das kann niemand!“
Inmitten der Wiesenblumen wirkte sie so zart und wunderschön, dass sein Herz überquoll vor unerwarteten Emotionen. Er musste ganz tief durchatmen, um den dumpfen Schmerz in seiner Brust zu lindern.
„Woher stammt diese Narbe?“, fragte er.
In ihren wundervollen Augen glitzerten noch Millionen ungeweinte Tränen. Sie wirkten wie tiefe graue Seen nach einem Frühlingsregen.
„Bitte, sag es mir“, bat er rau.
Als sie sprach, konnte er sie kaum verstehen. „Es tut zu weh … besser, man ist taub und gefühllos.“
„Nein!“, widersprach Stefano. „Manchmal ist es nur der Schmerz, der einen am Leben hält“, flüsterte er und suchte ihren Blick. „Wenn du ihm ausweichst, wirst du auch nie wahre Freude empfinden können.“
Annabelle wandte den Kopf zur Seite und sah zu den grünen Hügeln hinüber, die sich scharf vor dem blauen Himmel abhoben. Dann schaute sie wieder in das dunkle Gesicht dicht über ihr. „Ich weiß, du hältst mich für kalt und distanziert“, sagte sie leise und schloss für einen Moment die Augen. „Aber so war ich nicht immer …“
Und er gab ihre Handgelenke frei und stützte sich auf einen Ellenbogen, um sie von seinem Gewicht zu entlasten. Dann wartete er geduldig.
„Mein Vater hatte acht Kinder von fünf verschiedenen Frauen“, begann Annabelle mit einer Stimme, die in ihren eigenen Ohren fremd klang. „Und er hasste uns alle aus vollem Herzen. Jede einzelne unserer Mütter zerstörte er auf seine ganz unnachahmliche Weise … durch Verleugnung, Missachtung oder Gewalt. Sie haben ihn alle verlassen. Einige brachten es nur fertig, indem sie sich in den Wahnsinn oder den Tod flüchteten. Doch wir Kinder mussten bleiben.“
Sie blinzelte heftig, bevor sie fortfuhr.
„Meine Brüder hat er beim nichtigsten Anlass geschlagen, aber mich nie. Ich glaubte, es lag daran, dass ich meiner Mutter sehr ähnlich sah und dachte, ich könnte mich glücklich schätzen – bis zu jenem Tag.“
Stefano setzte sich auf, zog Annabelle zu sich hoch und legte einen Arm um ihre Schulter, was sie sich wie betäubt gefallen ließ.
„Und weiter?“, fragte er grimmig.
„Ich war fast fünfzehn, als ich beschloss, dass es höchste Zeit für den ersten Discobesuch meines Lebens sei. Also habe ich mir die Wimpern getuscht und einen Minirock angezogen, um zu testen, ob die Jungen im Dorf mich endlich beachten würden.“
„Und, haben sie?“, fragte Stefano rau.
„Mein Zwillingsbruder hat mich postwendend nach Hause geschickt, um mich zu beschützen. Doch dort bin ich direkt meinem betrunkenen Vater in die Arme gelaufen, der gerade von einem erfolglosen Jagdausflug zurückgekehrt war. Als er mich sah, ist er völlig ausgerastet. Er … er hatte seine Reitpeitsche noch in der Hand, als er mich anschrie: ‚Du Hure, dich wird nie wieder ein Junge
Weitere Kostenlose Bücher