Gleich bist du tot
nicht. Hier . . .«
»Sie haben seit zwölf Jahren keine Platte mehr aufgenommen, John. Was erwarten Sie da? Und was soll das alles mit Ihrer Tochter zu tun haben?«
Shepherd nahm noch einen großen, langen Schluck, bevor er antwortete.
»Weil ich immer alles verliere, oder etwa nicht? Meine Musik ist weg, meine verdammte lesbische Buddhisten-Öko-Frau ist weg, und jetzt nehmen sie mir auch noch meine Tochter.«
Birgit schüttelte den Kopf und senkte die Stimme, statt sie zu heben.
»Sie sind der größte Egoist auf dieser Welt. Um Ihre Tochter sollten Sie sich sorgen und nicht um Ihr zerbrechliches kleines Teenager-Ego.«
Sie ging hinüber zu Kelly.
»Es tut mir leid, Kelly, aber ich muss gehen. Ich halte das nicht aus. Ich werde hinüber ins Krankenhaus fahren, vielleicht kann man Perry mittlerweile besuchen.«
»Aber . . .«, sagte Kelly.
»Keine Sorge, Kel«, unterbrach Shepherd sie. »Lass sie nur. Wer braucht sie schon? Verstehst du mich, holländische Lesbe? Alte Scheiß-Holland-Lesbe.«
January lauschte aufmerksam, aber sie konnte nichts hören. Was nicht heißen musste, dass sie nicht irgendwo in der Nähe waren und jede ihrer Bewegungen beobachteten. Sie hatte früher schon mit Webcams zu tun gehabt, aber jetzt wünschte sie, sie hätte sich dabei mehr um die technischen Einzelheiten gekümmert: was sie konnten und was sie nicht konnten. Ihre Entführer hatten die Tür zu dem kleinen Badezimmer ausgehängt, und sie fragte sich, ob die Kamera tatsächlich bis ganz da hineinreichte. Als sie den Deckel des Spülkastens abgenommen hatte, um nach einem möglichen Werkzeug zu suchen, hatten sie nicht reagiert, sobald sie aber um Bett und Matratze herum was probiert hatte, waren sie gleich über sie hergefallen. Sie humpelte hinüber und sah sich im kleinen Spiegel über dem Waschbecken ihr ziemlich übel zugerichtetes Auge an. Die Wunde selbst blutete nicht mehr, aber die Schwellung wurde immer noch schlimmer. January betrachtete sich. Seit sie hier war, fühlte sie sich um hundert Jahre gealtert. Die Worte, die sie sagen musste, als sie gefilmt worden war, hatten nach einer merkwürdigen Art Lösegeldforderung geklungen. Und was sie dann noch alles wissen wollten, die E-Mail-Adresse ihres Vaters und seine Telefonnummern zum Beispiel. Aber sie war immer noch hier, eingeschlossen in diesem Scheißzimmer. Selbst wenn man nur zweimal im Jahr Nachrichten guckte, so wie sie, wusste man, dass Entführer irgendwann einen Fehler machten und die Nerven verloren, oder sie brachten ihr Opfer einfach so um, damit es ruhig blieb. Als der Dreckskerl das letzte Mal hereingestürmt war und ihr wehgetan hatte, wirklich wehgetan, hatte er keine Maske getragen. Das war absolut kein gutes Zeichen. Das hieß womöglich, dass es nichts mehr ausmachte, ob sie ihn sah oder nicht. Dass es nichts mehr ausmachte, weil sie . . .
Sie wusch sich das Gesicht, vermied es dabei, ihr verletztes Auge zu berühren, und trocknete sich mit dem kleinen Handtuch ab. Das hieß aber auch, dass sie nichts mehr zu verlieren hatte. Nichts. Sie betrachtete den Spiegel, der oben einen Sprung hatte, hinter dem die Silberfolie abpellte. Mit ein wenig Kraftaufwand würde ein großes Stück Glas von der Wand brechen. Ihre Hände zitterten, aber sie behielt sie unter Kontrolle. Sie hatte keine Ahnung, wie empfindlich das Mikro der Webcam war und was es alles registrierte, und so benutzte sie das Handtuch, um das Geräusch zu dämpfen. Langsam, ruhig, keine Eile. Das obere Drittel des Spiegels zerbrach in zwei lange, sich verjüngende Stücke. Der Rest blieb ziemlich lose an der Wand hängen. Sie legte ein Stück auf den Deckel des Spülkastens und benutzte das spitzere Stück, um das Handtuch zu zerschneiden. Dann legte sie auch das zweite Stück ab und machte sich daran, das Handtuch in Streifen zu reißen. Als sie genug von ihnen hatte, wickelte sie die Stoffstücke um das Ende des von ihr ausgewählten Spiegelstücks. Sie nahm es in ihre unverletzte Hand, machte ein paar Übungsstöße damit nach vorn und versuchte sich an die Bewegung und das Gefühl zu gewöhnen. Ihr Overall hatte zwei Taschen mit Reißverschluss. Immer noch mit dem Rücken zur leeren Türöffnung, schob sie die provisorische Waffe in die rechte von ihnen. January war voller Angst und verzweifelter Hoffnungslosigkeit. Seltsamerweise gab es da aber auch einen See der Ruhe, und sie musste sich nur entschließen, in ihn einzutauchen. Sie hatte noch nie in ihrem Leben gegen
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