Gleis 4: Roman (German Edition)
und sagte: »Voilà. Enfin«, endlich.
Sie bat um ein Glas Wasser, und Isabelle brachte es ihr.
Lange sagte niemand etwas. Die Frau im andern Bett hustete und verfiel dann wieder in ihren Dämmerzustand.
Schließlich riskierte Isabelle eine Frage:
»Wann haben Sie Ihren Marcel zum letzten Mal gesehen?«
Frau Berthod dachte nach.
»Mit sechs Monaten.«
»Und wie kam das?«
Wieder sagte sie lange nichts und schaute zum Fenster hinaus, vor dem sich eine große, dunkle Zypresse erhob. Ihr Zimmer lag nicht auf der Seeseite.
»Ich hatte Marcel mit 18 Jahren. Sein Vater war der Bauer, bei dem ich Magd war. Er drohte, mich umzubringen, wenn ich ihn verrate. Ich hatte Angst vor ihm und sagte nichts. Sie haben mir Marcel weggenommen und nie mehr gesagt, wo er ist. Eine wie ich könne keine gute Mutter sein. Ich kam in ein Heim, bis ich zwanzig war – und wo ist Marcel jetzt?«
»Wie wir Ihnen schon sagten, er ist leider diese Woche gestorben, als er zum ersten Mal wieder in die Schweiz zurückkam.«
Aber er sei so ein lieber Mensch gewesen, und er habe es im Leben zu etwas gebracht, und das habe sie ihr einfach sagen wollen, fügte Véronique hinzu.
Frau Berthod nickte.
»Die Schweiz hat ihm kein Glück gebracht. Es waren Sauhunde, des salauds. Alle, der Bauer, der Pfarrer, die von der Armenbehörde. Niemand hat mir geholfen. Niemand.«
Und auf einmal schrie sie: »C’étaient des salauds! Des salauds!«
Frau Prêtre im andern Bett bekam einen Hustenanfall, Isabelle half ihr, sich aufzurichten, klopfte ihr auf den Rücken und versuchte ihr etwas Wasser einzuflößen. Eine Pflegerin kam herein, um zu fragen, was es gebe, und auch ihr schrie Frau Berthod entgegen: »C’étaient des salauds!«
Die Pflegerin bat die Wütende, sich zu beruhigen, es sei hier niemand, der ihr etwas antun wolle, worauf ihr Madame Berthod mit scharfer Stimme sagte, sie hätten ihr ihren Sohn gestohlen, »ils m’ont volé mon fils.«
Isabelle bewog die Pflegerin, mit ihr zusammen das Zimmer zu verlassen und erzählte ihr draußen auf dem Korridor, was Frau Berthod soeben erfahren habe und was sie von Frau Berthod erfahren hatten. Darauf sagte die Pflegerin, nun verstehe sie endlich, was der Satz bedeute, den die Frau so häufig wiederholt habe und der manchmal das Einzige gewesen sei, das sie überhaupt gesagt habe. Welcher Satz denn, fragte Isabelle.
»Est-ce que vous avez des nouvelles de Marcel?«
Der ältere Mann, der jetzt im Korridor auftauchte und auf das Zimmer 108 zuging, begrüßte die Pflegerin, die ihn Isabelle als Sohn von Madame Berthod vorstellte. Zugleich sagte sie, sie glaube, es sei soeben ein Rätsel gelöst worden.
»Vous avez des nouvelles de Marcel?« fragte der Mann ungläubig, denn auch er hatte den Satz von seiner Mutter oft genug gehört, wenn er zu Besuch kam.
Die Pflegerin wurde zu einem andern Zimmer gerufen und ließ die beiden allein.
Als Isabelle Herrn Berthod die Geschichte erzählte, stellte sich heraus, dass ihm seine Mutter nie etwas gesagt hatte.
»Quelle surprise«, sagte er zu Isabelle, was für eine Überraschung, aber irgendwie auch nicht. Marcel hätte ja auch eine Jugendliebe seiner Mutter sein können, aber eigentlich habe er immer das Gefühl gehabt, er habe einen Bruder.
Als sie das Zimmer betraten, saß Frau Berthod im Lehnstuhl, hielt das Foto von Martin in der Hand, während Véronique, die Hand auf Frau Berthods Schulter, ihr von der ersten Begegnung mit ihrem Sohn erzählte und von den weißen Walen, die neben seinem Schiff herschwammen, als ob sie mit ihm befreundet wären.
17
»Dann wohnen Sie also seit über vierzig Jahren hier?« fragte Sarah, und die Frau, die ihr gegenübersaß, nickte und griff nach einer der Lindor-Kugeln, die ihr Sarah angeboten hatte.
Sie sei Studentin und müsse eine Arbeit über genossenschaftliches Wohnen machen, hatte Sarah gesagt, als sie bei »K. Meier« geklingelt hatte und ihr die pummelige kleine Frau geöffnet hatte. Ob ihr Mann auch da sei und ob sie zehn Minuten Zeit habe für ihre Fragen?
Ihr Mann war nicht da, und sie hatte zuerst abgelehnt, doch als Sarah geklagt hatte, es sei so schwer, Leute zu finden, die ihr auf ihre paar Fragen Auskunft gäben, und mit den Worten, es gebe sogar eine kleine Belohnung dafür, das Päcklein Lindor-Kugeln aus ihrer Tasche gezogen hatte, hatte Frau Meier sie schließlich eingelassen, und nun saß sie bei ihr in der Stube auf einem Stoffsessel mit kurzen Beinen, dessen Kopflehne mit einem
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