Gleis 4: Roman (German Edition)
sagte sie und setzte mit ihrem Kugelschreiber einen Haken hinter das Wort »Name«.
Was das sei, fragte Sarah.
Sie habe sich eine Liste gemacht von allem, was sie über Martins Leben und Tod nicht wisse.
Véronique war beeindruckt, dass sie sich eine solche Mühe gab, und Sarah bemerkte mit einem amüsierten Blick auf die Zeichnung: »Dein Stromboli spuckt aber ganz schön – oh, und zu ›Kanada‹ wissen wir mehr!«
Sie berichtete von der Verschollenheitserklärung im Jahre 1962. Da man dafür mindestens fünf Jahre ohne Nachricht vom Vermissten bleiben müsse, sei Martin spätestens 1957 nach Kanada ausgewandert. Er habe es ihr nie genau gesagt, fügte Véronique hinzu, aber sehr jung sei er bei seiner Ankunft gewesen, das wisse sie.
Isabelle nickte, 17, ja, das sei sehr jung, und das heiße wohl, dass er direkt aus der Anstalt gekommen sei.
Sarah war verwundert. Aus welcher Anstalt?
Er sei offenbar nach seinen Jahren bei der Pflegefamilie in eine Erziehungsanstalt gesteckt worden.
Davon hatte Véronique noch nie gehört. Woher sie denn das wisse?
»Ich habe heute Vormittag den Meier getroffen.«
Sarah sprang von ihrem Stuhl auf. »Allein?«
»Ja.«
»Spinnst du?«
»Wieso?«
»Ma, der Mann ist doch gefährlich, merkst du das nicht?«
Sie könne schon auf sich aufpassen, sagte Isabelle und bat Sarah, sich zu beruhigen. Er habe sie eben angerufen –
»Angerufen? Auf deine Festnetznummer?«
»Ja.«
»Ich sag dir’s, das war der Typ gestern, hab ich ja gleich gedacht, dass er dir nachspioniert! Jetzt weiß er, wie du heißt und wo du wohnst!«
»Na und? Das wissen so und so viele andere auch.«
»Aber die sind dir nicht feindlich gesinnt!«
»Nicht, dass er mir sympathisch wäre, doch er wollte von mir hören, was mit Martin war, und ich hab es ihm gesagt. Jetzt wird er wohl Ruhe geben.«
»Der hat sich bestimmt gefreut, dass Martin tot ist, das Aas.«
»Er schien erleichtert, ja.«
»Und hast du auch seine Adresse?«
»Nein, aber seinen Vornamen. Konrad.«
»Sonst nichts?«
Isabelle ärgerte sich, dass sie ihm nicht wenigstens seine Telefonnummer entlockt hatte.
»Es war schon ein kleines Kunststück, seinen Vornamen aus ihm herauszukriegen.«
Sarah ging zum Telefon ihrer Mutter, schaute das Display an, drückte auf das Menü mit den Funktionen und sagte dann: »Ich sag dir schon lang, du solltest einen neuen Anschluss haben, der die Anrufe speichert.«
»Damit ich lesen kann ›anonym‹?«
Bei diesem schnellen Wortwechsel waren sie in den Dialekt verfallen, und nun fragte Véronique, worum es genau gehe.
»She met that asshole Meier this morning«, sagte Sarah.
Und was sie denn dabei herausbekommen habe?
Das wichtigste sei wohl, dass Martin die Pflegefamilie verlassen musste und in eine Anstalt kam, und der Grund, so Meier, sei gewesen, dass er einen Mist gebaut habe, der ihre ganze Familie kaputt gemacht habe. »Wenn wir herausfänden, was Meier mit diesem Mist meinte, wüssten wir wohl auch, weshalb sie Martin auf dem Friedhof nicht dabeihaben wollten.«
Alle schwiegen.
Dann sagte Véronique, Martin habe ihr immer versichert, er habe nichts Unrechtes getan, und sie glaube ihm das und werde es immer glauben.
Sarah sagte, dass sie hoffentlich am Montag beim Gericht die Unterlagen zur Verschollenheitsverhandlung einsehen könnten sowie das, was auf dem Sozialamt über seine Jugend bekannt sei. Dort erführen sie vielleicht mehr. Martin habe übrigens am Montag versucht, und das sei der Grund seines Anrufs nach Uster gewesen, mit dem Sozialamt Kontakt aufzunehmen.
Véronique betonte nochmals, wie gerührt sie sei über ihre Hilfsbereitschaft, aber sie finde, sie könnten es nun auch bleiben lassen, es sei doch bloß ein Zufall, dass Isabelle mit Martins Geschichte in Berührung gekommen sei, mit der sie ja gar nichts zu tun habe, und auch Sarah habe bestimmt genug Arbeit mit ihrem Studium.
Das habe sie sich heute auch überlegt, entgegnete Isabelle, aber es gebe Geschichten, die treffen einen, ob man es wolle oder nicht, und so sei sie Teil von Martins Geschichte geworden, doch die sei offenbar noch nicht zu Ende erzählt.
Ja, sagte Sarah, solange dieser Zombie von Meier herumschleiche und etwas unter dem Deckel halte, sei die Geschichte noch nicht zu Ende, weder für ihre Mutter noch für Véronique, und sie glaube, je mehr sie über Martins Vergangenheit herausfänden, desto eher verstünden sie, was passiert sei. Und von wegen Studium, eigentlich gehöre das zu ihrem
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