Gleis 4: Roman (German Edition)
fotografiert?«
Sarah ballte eine Hand zur Faust und überlegte sich eine Sekunde, ob sie zuschlagen sollte, doch auf einmal bekam sie es mit der Angst zu tun. Sie trat einen Schritt zurück, stieß mit dem Rücken an die Tür und hob abwehrend die Hände in die Höhe.
»Den Boden. Ich musste wirklich auf die Toilette. Ich bin schwanger«, sagte sie leise, aber bestimmt.
»So, so. Auch von einem Neger?«
»Ich bitte Sie – was wollen Sie von mir?«
»Und was wollen Sie von mir , Fräulein Sarah Rast, dass Sie bei uns herumschnüffeln?«
Sarah war empört.
»Sie haben auch bei uns herumgeschnüffelt!«
»Also«, sagte Meier, zog den Schlüssel aus seiner Hosentasche, ging zur Tür und öffnete sie, »dann sind wir ja quitt. Und merken Sie sich: ich will Sie hier nicht mehr sehen.«
Sarah schob sich an ihm vorbei ins Treppenhaus. »Und ich Sie bei uns nicht mehr, das können Sie sich auch merken!«
Nach ein paar Stufen drehte sie sich nochmals um und rief: »Und wie Sie Marcel Wyssbrod fertiggemacht haben, finden wir auch ohne Sie heraus!«
Doch da war die Wohnungstür schon geschlossen.
18
Sie saßen auf einer Bank auf der Rigi, etwas unterhalb der Bergstation Rigi Kulm. Isabelle hatte Véronique am Sonntag zu einem Ausflug auf den klassischen Schweizer Aussichtsberg eingeladen, war mit ihr in der Rigi-Bahn bis zur obersten Station gefahren, von der aus man in ein paar Minuten auf den Gipfel gelangte.
Das Wetter war etwas weniger schön, als sich Isabelle erhofft hatte. Zwar schien noch die Sonne, aber das Alpenpanorama war nicht lückenlos zu sehen, Wolken zogen auf und begannen sich vor die Bergspitzen zu legen oder sie einzuhüllen. Immerhin hatte Isabelle Véronique von der Aussichtsplattform aus noch Eiger, Mönch und Jungfrau zeigen können, bevor der Vorhang vor ihnen zugezogen wurde. Sie gehörten zu den wenigen Gipfeln, die sie zuverlässig kannte, und der Blick hinunter auf den Zuger- und Vierwaldstättersee und, auf der andern Seite, auf die Seen des Mittellandes war auch noch frei gewesen und hatte Véronique ebenso beeindruckt wie die ganze Gebirgskette.
Bei der Fahrt in die Höhe waren sie mitten in einer japanischen Reisegruppe gesessen. Die asiatischen Touristen, so schien es, wollten den Gipfel nur erreichen, um sich gegenseitig zu fotografieren, und als Isabelle einen der Japaner fragte, ob er sie beide mit ihrem Apparat fotografieren würde, knipste dieser freundlich lächelnd einige Bilder, wechselte vom Querformat ins Hochformat, schlug ihnen vor, sich noch etwas zu verschieben, because of the lake, und bat dann Isabelle, mit seinem Apparat ein Bild von Véronique und ihm zu schießen, »with a lady from Switzerland«. Sie sei Kanadierin, sagte Véronique, die Schweizerin sei Isabelle, worauf er seinen Apparat Véronique in die Hand drückte und sich neben Isabelle vor das Geländer der Plattform stellte.
Isabelle hatte zu Hause zwei Eier hart gekocht, zwei Rüben und zwei Äpfel und eine Nussschokolade eingepackt, am Bahnhof für jede von ihnen ein Sandwich und ein Fläschchen Mineralwasser gekauft, und das hatte sie nun zwischen ihnen beiden auf zwei farbigen Papierservietten auf der Bank ausgebreitet. Sie zog das Picknicken den Ausflugsrestaurants vor, deren Terrassen voller Familien mit quengelnden Kindern, Senioren mit großen Hunden und fröhlichen Wandergruppen waren und wo man endlos auf das überforderte Servierpersonal warten musste.
Véronique freute sich über diesen improvisierten Tisch, biss mit Appetit in ihr Sandwich und sagte: »Now I feel like a lady from Switzerland.«
Zum Picknick gehöre auch, sagte Isabelle, dass man die Eier mit den Spitzen aufeinanderschlage, bevor man sie schäle. Wer das härtere Ei habe, dürfe dem andern befehlen, den Abfall mitzunehmen. So hätten sie es immer mit ihren Eltern gemacht, wenn sie an einem Sonntag oder in den Ferien wandern gegangen seien.
Ob sie denn eine glückliche Jugend gehabt habe, fragte Véronique.
Isabelle überlegte einen Moment.
Ja, doch, das könne man sagen. Sie sei mit ihrer jüngeren Schwester zusammen in Winterthur aufgewachsen, ihr Vater sei Buchhalter gewesen bei einer Textilmaschinenfabrik, ihre Mutter habe als Arztgehilfin in der Praxis eines Gynäkologen gearbeitet, Teilzeit, als sie noch klein waren, später Vollzeit. Ihr Vater sei gerade rechtzeitig pensioniert worden, bevor die große Krise über die Textilmaschinenbranche hereingebrochen sei. Sie habe das machen können, was sie gewollt habe,
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