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Gleis 4: Roman (German Edition)

Gleis 4: Roman (German Edition)

Titel: Gleis 4: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Hohler
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sei auch etwas nervös, sagte Isabelle, aber sie finde, sie sollten hingehen, schließlich habe sie im Heim angerufen, und sie seien angemeldet.
    Als was sie sie denn angemeldet habe, fragte Véronique.
    Als einen Besuch aus alter Zeit, sagte Isabelle.
    Véronique bat Isabelle, vor allem sie solle sprechen, sie habe da mehr Erfahrung.
    Isabelle beruhigte sie. Klar, sie werde gerne sprechen, und ob sie die Fotos dabeihabe.
    »Bien sûr«, sagte Véronique, ließ Isabelle wieder los und öffnete nochmals kurz ihr Handtäschchen, in dem der Umschlag mit den Fotos zuoberst lag.
    Bei der Haltestelle, welche der Plan angab, stiegen sie aus, gingen ein paar Schritte an der Straße entlang weiter, bogen dann nach rechts ab und gingen zwischen Ein- und Zweifamilienhäusern mit kleinen Gärten auf ein Gebäude zu, das einmal herrschaftlich gewesen war und das für alles mögliche gebaut worden war, nur nicht für ein Altersheim. Aber sie waren bei der richtigen Adresse.
    »Le Vieux Vignoble«
    stand auf dem Schild am Pfeiler des Eingangstores, und darunter
    »Home pour personnes âgées«.
    Sie gingen über den kleinen gekiesten Vorplatz zum Haupteingang, Isabelle drückte die schwere Klinke, und mit elektrischer Unterstützung öffnete sich die große Tür.
    Der Eingangsraum war ziemlich düster, der mächtige Kronleuchter, der von der Decke hing, war nicht eingeschaltet, nur die Bürolampe am Pult der Rezeption. Frau Berthod, so sagte man ihnen, sei im ersten Stock, in Zimmer 108, links. Ob sie den Lift benützen wollten, der sei gleich rechts.
    »Nein, danke, es geht gut«, sagte Isabelle, ohne Véronique zu fragen, und zusammen stiegen sie die Treppe hoch, die ein abgewetzter roter Teppich vor den Fußtritten schützte.
    Das Täfelchen neben der Tür von Zimmer 108 war angeschrieben mit
    Berthod, Anna-Maria
    Prêtre, Fabienne
    »Alors«, sagte Isabelle und blickte Véronique an, »on y va?« Dann klopfte sie an.
    Als niemand reagierte, öffnete Isabelle vorsichtig die Türe, und sie traten ein. Im einen der beiden Betten lag, unter dem goldgerahmten Foto eines Brautpaars, eine Frau mit geschlossenen Augen, das zweite Bett gegenüber war nicht benutzt, aber neben einem kleinen Tisch mit einem verwelkten Blumenstrauß saß eine Frau in einer grünen Strickjacke mit gekrümmtem Rücken in einem Lehnstuhl am Fenster und wandte ihnen den Kopf zu. Véronique ging sofort auf sie zu, beugte sich zu ihr und küsste sie.
    »Hortense?« fragte die Frau im Lehnstuhl.
    »Non, je suis –«
    »Annette?«
    »Non, je suis –«
    »s Emmi?«
    »Non, je suis Véronique, la femme de …« in plötzlicher Hilflosigkeit kehrte sie sich zu Isabelle.
    Isabelle wickelte die Blumen aus dem Papier und sagte: »Schauen Sie, Frau Berthod, was wir Ihnen gebracht haben, da kommen wir ja gerade recht.« Sie legte ihr den Strauß auf die Knie, ging mit der Vase zum Lavabo, nahm die welken Blumen heraus und drückte sie in den etwas zu kleinen Abfallkorb, spülte die Vase aus, füllte sie dann mit frischem Wasser, kam zum Tisch zurück und stellte ihren Blumenstrauß ein.
    »Gefallen sie Ihnen?«
    Frau Berthod nickte.
    »Aber – ich weiß nicht, ob ich euch kenne«, und sie blickte forschend von einer der Besucherinnen zur andern.
    Isabelle holte den einzigen Besucherstuhl des Zimmers, damit Véronique Platz nehmen konnte, und sie selbst setzte sich auf die Bettkante am Fußende.
    »Also«, sagte Isabelle, »das hier ist Véronique, und sie ist die Frau von Marcel Wyssbrod.«
    Sie machte eine Pause.
    Frau Berthods Blick blieb so fragend wie zuvor.
    Isabelle korrigierte sich. »Sie war die Frau von Marcel Wyssbrod, denn leider ist er in dieser Woche verstorben. Wir haben herausgefunden, dass Sie seine Mutter waren. Das stimmt doch, oder?«
    Nun richtete sich Frau Berthod in ihrem Lehnstuhl auf. »Marcel? Est-ce que vous avez des nouvelles de Marcel?«
    Nun begann Véronique zu erzählen, von Marcels Auswanderung nach Kanada in jungen Jahren, und wie er Schifffahrtskapitän geworden sei und wie sie beide in reiferem Alter geheiratet hatten, und was er für ein feiner, flotter, anständiger Mensch gewesen sei, nur dass er ihr unglücklicherweise nie etwas von seiner Jugendzeit erzählt habe und wohl auch gar nicht gewusst habe, wer seine Mutter gewesen sei. Sie reichte ihr ein Foto von ihm als Kapitän.
    Isabelle brachte Frau Berthod die Brille, die sie auf dem Nachttischchen gesehen hatte, und sie schaute nun lange auf das Foto. Dann ließ sie es sinken

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