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Gleis 4: Roman (German Edition)

Gleis 4: Roman (German Edition)

Titel: Gleis 4: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Hohler
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hatte, daran erinnerte sie sich, beim Hinaufsteigen zur Anzeigetafel von Gleis 4 geblickt.
    Und warum Martin um seine Tante in Sorge war, war ihnen nun auch klar. Sie kannte die Wahrheit über das Bergunglück und wäre, falls es während der Beerdigung zu einer Konfrontation zwischen ihm und den Brüdern gekommen wäre, eine Gewährsperson für diese Wahrheit gewesen. Darüber mussten sie an diesem Sonntag gesprochen haben. Martin wusste um Konrad Meiers Bösartigkeit und hatte Angst um Elsa Maurer.
    Was er nicht wusste, war, dass Konrad Meier am selben Montagmorgen, an dem Martin den Kontakt zu Isabelle Rast suchte, zu seiner Schwägerin ins Altersheim ging, um sie zu fragen, ob sie zur Beerdigung ihrer Schwester komme. Dort erfuhr er, dass Marcel da war, nahm sich seine Schweizer Handy-Nummer mit und versuchte ihn anzurufen.
    Martin sei, hatte Véronique gesagt, in letzter Zeit vergesslich geworden. Der Anzug, den er am Sonntag getragen hatte, war im Schrank seines Hotels aufgehängt, mit dem Flugticket und seinem Pass, dem Hotelbadge und dem Geldbeutel drin, und er hatte sich am Montag wohl den andern angezogen, den er eingepackt hatte, ohne daran zu denken, Ausweis und Zimmerschlüssel einzustecken.
    Dass er Isabelle angesprochen hatte, war also kein Zufall, sie war persönlich gemeint. Er suchte einen Schutzengel für seine Tante und ahnte nicht, dass er seinen Todesengel fand.
    Die Aufregung über diese ungewöhnliche Annäherung und über die bevorstehende Begegnung mit dem ganzen Unglück seiner Jugend, diese Aufregung verbündete sich mit der Anstrengung des Interkontinentalfluges zum tödlichen Angriff auf sein Herz.
    Sie habe, sagte Véronique, als sie sich aus der Umarmung löste, eine neue Freundin gefunden.
    Moi aussi, sagte Isabelle, ich auch, und im Moment, als sie sich verabschieden wollten, schrie jemand so laut »Just a minute!« durch die Halle, dass sich verschiedene Leute umdrehten. Sarah kam die Treppe hochgerannt und schwenkte eine Rose.
    Sie hatte am Morgen ihre mündliche Prüfung gehabt und angekündigt, dass sie nicht mit zum Flughafen komme. Nun hatte es ihr aber doch gereicht, und sie küsste Véronique, überreichte ihr die Rose mit den Worten »I wanted to say good-bye to my aunt«, sie habe ihrer Tante auf Wiedersehn sagen wollen.
    Véronique war gerührt. Da sei sie stolz, eine solche Nichte zu haben, sagte sie und fragte, ob es denn gut gegangen sei heute Morgen.
    Doch, doch, sie glaube schon, sie habe jedenfalls gewusst, wer wann weshalb Krieg führen dürfe und mit welchen Mitteln und diese ganzen Männerabmachungen, »all these deals between men.«
    Als Véronique zum Schalter mit der Passabfertigung ging, trug sie in der rechten Hand ihre Tasche und in der linken Sarahs Rose. Sie drehte sich nochmals um und winkte mit der Rose, bevor sie hinter dem Schalter verschwand.
    Isabelle hängte sich bei Sarah ein und lud sie zum Mittagessen in einem der Flughafenrestaurants ein.
    Etwas später wurde die Halle vor der Passkontrolle evakuiert, ein Spezialtrupp der Polizei barg das herrenlose Handgepäckstück mit einem Sprengroboter, wodurch es zu einer Reihe von Abflugverspätungen kam. Da man dem Pulver und den Stützdrähten des Behälters, die bei der Durchleuchtung auf dem Bildschirm zu sehen waren, nicht traute, wurde die Urne in einem dafür vorgesehenen Steinbruch gesprengt, und Marcels Asche vermischte sich mit dem Sprühnebel des eingesetzten Wasserwerfers und fiel als sanfter Regen auf den lehmigen Boden einer Waldlichtung, im Land, in das er nie mehr zurückkehren wollte.

Epilog
    Einige Wochen später erhielt Isabelle einen Brief aus Kanada.
    Darin schrieb ihr Véronique, der kleine Schlüssel, den Martin bei seinem Tod bei sich getragen habe, sei für ein verschlossenes Fach seines Schreibtischs gewesen, und in diesem Fach habe sie das Heft gefunden, das sie ihr beilege. Es sei auf Deutsch geschrieben, und da sie das nicht lesen könne, habe sie es für sich kopiert und schicke ihr das Original.
    Geschrieben habe es Martin, wie sie am Datum sehe, lange bevor sie sich kennengelernt hätten. Eine Kollegin, die deutsch spreche, habe ihr den Titel übersetzt, aber sie habe ihr das Heft nicht gegeben, da sie fand, das dürfe nur jemand lesen, der Martin gekannt habe, und sie sei natürlich gespannt, was er von seiner Herkunft erzähle.
    Isabelle nahm das Heft in die Hand und setzte sich an ihren Tisch. Es hatte einen blauen Umschlag, und im weißen Feld für den Titel stand »Wo

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