Gleis 4: Roman (German Edition)
ich herkomme«. Sie schlug es auf, es war liniert, die vorderste Seite war leer, der Bericht begann erst auf der nächsten Seite. Er war in einer gut lesbaren Handschrift abgefasst, aber Isabelle glaubte ihr anzumerken, dass sie von jemandem stammte, für den das Schreiben nichts Alltägliches war.
Ich bin am 28. Januar 1940 in Uster im Kanton Zürich zur Welt gekommen.
Mein Name war Marcel Wyssbrod.
Wer meine Eltern waren, hat man mir nie gesagt.
Ich bin zuerst in einem Waisenhaus aufgewachsen.
Als ich zur Schule kam, suchte man einen andern Platz für mich, und ich kam als Verdingkind in eine Bauernfamilie.
Verdingkinder nennt man Kinder, welche die Armenbehörde mit einem Kostgeld in eine Familie gibt. Am liebsten hat man Pflegeeltern, welche mit einem geringen Betrag zufrieden sind. Ich bekam das oft zu hören, z. B. so: »Mit dem, was wir von der Gemeinde für dich bekommen, können wir dir nicht auch noch neue Hosen kaufen.« Ich hatte immer nur alte, geflickte Kleider an und musste die gebrauchten Schuhe der zwei älteren Söhne tragen. Auch konnte ich jederzeit aus der Schule zur Arbeit abkommandiert werden, z. B. wenn Heuet war.
Meistens musste ich am Morgen eine Stunde früher aufstehen, um die Ziegen zu melken, und wurde abends oft noch zum Putzen in den Stall geschickt, statt dass ich meine Aufgaben machen konnte. So wurde ich kein guter Schüler. Ich hätte aber gerne mehr gelernt.
Neben dem Küchentisch, an dem meine Pflegeeltern mit ihren beiden Söhnen assen, gab es noch ein niedrigeres Tischchen. Das war mein Platz. Meine Portionen waren kleiner als die für den grossen Tisch. Wenn ein zweites Mal geschöpft wurde, dann nur für die andern. Ich hatte ständig Hunger. Manchmal ass ich sogar etwas aus dem Schweinetrog, wenn ich die Schweine füttern musste.
Der Bauer war jähzornig. Wenn er dreinschlug, konnte es zwar manchmal auch seine zwei Söhne Konrad und Alfons treffen, aber meistens traf es mich. Die Söhne schoben denn auch gerne die Schuld auf mich, wenn etwas schiefging. »Es war der Bub«, sagten sie. Niemand sagte Marcel zu mir.
Wo ich Hilfe suchen sollte, wusste ich nicht. Einmal, als man beim Turnen meine Striemen vom Lederriemen auf dem Rücken sah, fragte der Lehrer, woher ich die habe. lch sagte, vom Vater, da fragte der Lehrer, wofür. Ich gab zur Antwort, für nichts.
Das werde ja nicht sein, sagte der Lehrer, ich müsse mir einfach Mühe geben, immer zu gehorchen. Aber der Lehrer war selbst ein Prügler und schlug mir mit dem Lineal auf die Finger, wenn ich einen Tintenfleck ins Heft gemacht hatte. Und wenn ich die Hausaufgaben nicht gemacht hatte, musste ich vor der Klasse auf ein Holzscheit knien.
Einmal behielt mich der Pfarrer nach der Christenlehre zurück und fragte mich, warum ich so verstockt sei und nie etwas sage. Ich antwortete, wenn der Heiland wirklich helfen würde, würde er mich aus dieser Familie wegnehmen. Dem Pfarrer fiel nichts anderes ein als die Aufforderung, mehr zu beten und ein gottgefälliges Leben zu führen.
Der einzige Mensch, bei dem ich manchmal ein bisschen Trost fand, war Elsa, die Schwester meiner Pflegemutter Mathilde. Sie wohnte im selben Haushalt und steckte mir ab und zu einen Apfel oder ein Stück Brot oder etwas Schokolade zu, aber nur, wenn es niemand sah.
So war es also: Der Bauer hasste mich. Seine zwei Söhne hassten mich. Meine Pflegemutter hasste mich vielleicht nicht, aber sie tat nichts, das meine Lage verbesserte. Und Elsa, die nur geduldet war, weil sie zu ihrer Schwester gehörte, war nicht stark genug, um offen zu meinen Gunsten aufzutreten.
Dann kam dieser Sonntagsausflug. Man ging auf den Großen Mythen, einen steilen Berg in der Innerschweiz. Er sieht unbesteigbar aus, aber es führt doch ein Fusspfad hinauf. Man hatte mich nur mitgenommen, damit ich nicht allein zu Hause blieb und etwa hinter die Vorräte ging. Die Mutter wartete mit Elsa in der Wirtschaft am Fuss des Berges, und der Vater ging mit den Söhnen und mir hinauf. Sein Tempo konnten wir alle fast nicht mithalten.
Als er nach einer der vielen Wegkurven stehen blieb und uns anbrüllte: »So, ihr fuule Sieche, mached e chli!«, schlug ihm Konrad die Faust ins Gesicht. Der Vater taumelte, glitt aus und rutschte am Rand des steilen Wegs mir entgegen. Ich versuchte, ihn am Bein zu halten, aber er hatte das Gleichgewicht schon verloren. Ich musste ihn loslassen, und der Bauer fiel über die Felswand in die Tiefe. Alfons rannte sofort hinunter zur
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