Gleis 4: Roman (German Edition)
sagte Sarah, sie frage sich einfach, wie es dazu gekommen sei. Die Zeitung spreche ja von drei Söhnen, und in der Todesanzeige stünden nur zwei, also müsste der dritte Marcel Wyssbrod gewesen sein. Für eine kurze Zeitungsnotiz könne man keine langen Recherchen erwarten. Da habe es offenbar einen Rettungsversuch gegeben, einer der drei habe versucht, den Stürzenden zu halten.
»Martin«, sagte Véronique schnell, »sûrement c’était lui, il voulait toujours aider.« Bestimmt sei es Martin gewesen, der ja immer helfen wollte.
Angenommen, er sei es gewesen, sagte Sarah, dann wäre das am allerwenigsten ein Grund, ihn in einer Anstalt zu versorgen, das verstehe sie nicht.
Ob sie einmal auf diesem Mythen gewesen sei, fragte Véronique, und Sarah verneinte.
Isabelle habe ihr gestern erzählt, sie sei als Kind schon dort hochgestiegen, sagte Véronique, da gebe es einen Weg, aber sie verstehe nicht, wieso man da hinaufgehe, und auch noch mit Kindern, sie habe den Berg ja vom Rigi aus gesehen, und es wundere sie überhaupt nicht, dass man da abstürzen könne. Und weshalb der Vater abgestürzt sei, stehe das nicht in der Zeitung?
»Ausgerutscht«, sagte Sarah, »he slipped.«
Dann fragte sie Véronique, ob sie noch nach Uitikon fahren wolle, das sei nicht weit, aber Véronique verneinte. Sie sei zu müde und würde sich lieber etwas hinlegen.
Oerlikon wurde angesagt, und sie machten sich bereit zum Aussteigen. Als sie aufstanden, meldete sich Sarahs Handy mit einer SMS . Sie zog es aus ihrer Tasche, öffnete die Nachricht und war perplex. Dann sagte sie zu Véronique, sie könne sich wieder setzen, sie führen gleich weiter bis zum Hauptbahnhof.
Der Text lautete: »Tante gefunden. Kommt in die Steinhalde, B 17«.
Als Sarah und Véronique etwa dreiviertel Stunden später vorsichtig die Türe 17 der Pflegeabteilung B öffneten, fanden sie dort Isabelle, die neben einer schlafenden Frau im Rollstuhl saß und ihren Finger an die Lippen hielt.
Sie setzten sich beide auf das Bett und schauten Isabelle fragend an.
Isabelle flüsterte ihnen zu: »Frau Maurer-Schwegler. Die Schwester von Mathilde Meier. Die Tante der Meier-Brüder und die Tante von Marcel, eh Martin.« Als sie dasselbe noch auf Französisch wiederholte, sagte Frau Maurer laut: »Ich bin nicht die Tante von Marcel, aber er nannte mich so.«
»Oh«, sagte Isabelle, »ich dachte, Sie schlafen.«
»Das wissen Sie doch, Frau Isabelle, alte Weiber sind wie Katzen, die schlafen nie richtig.« Frau Maurer blickte die beiden Besucherinnen an. »Hab schon vergessen, wer ihr seid. Wer ist das Königskind?«
Isabelle lachte.
»Meine Tochter Sarah.«
Sarah nickte. »Danke fürs Kompliment.«
»Und wer war der König?«
Die Antwort kam von Sarah: »Ein afrikanischer Medizinmann.«
Frau Maurer ergriff Isabelles Hand und sagte zu ihr: »Das haben Sie gut gemacht! So was hab ich in Uster vergebens gesucht. Und die Dame?«
»Frau Maurer, jetzt müssen wir wieder ernster werden: Das ist Véronique, die Frau, die Marcel in Kanada geheiratet hat und die jetzt leider seine Witwe ist.«
»Marcel ist tot?«
»Ja, Frau Maurer, das hab ich Ihnen schon gesagt.«
Frau Maurer nahm ihre Brille ab und fuhr sich mit dem Handrücken über die Augen.
»Er hat mich doch eben noch besucht. Und hat mir kanadische Guezli mitgebracht, mit Ahornaroma. Die hab ich alle gegessen.«
»Erzählen Sie es doch nochmals der Reihe nach, Frau Maurer.«
Die alte Frau schloss die Augen einen Moment, setzte die Brille wieder auf und sagte dann:
»Am Nachmittag, ich glaube, es war Sonntag, ja, Sonntag vor einer Woche. Er wollte ja zu Mathildes Beerdigung. Ich hab ihm telefoniert deswegen, die Nummer hab ich in meiner Schublade. Wir haben jedes Jahr einmal telefoniert, ich hatte ihn eben gern, den Bub. Er kam direkt vom Flughafen zu mir, wir haben schön zusammen geschwatzt, er hat mir erzählt von Kanada, und wie es ihm gut ergangen war dort, er hat mir das Foto von sich dagelassen, und auch seine Telefonnummer in der Schweiz, die hat er neben sein Foto gelegt, er wollte nochmals kommen nach der Beerdigung, aber er kam nicht mehr, und seine Telefonnummer hab ich nicht mehr gefunden, vielleicht hat sie der Konrad mitgenommen, als er am nächsten Morgen kam, um zu fragen, ob ich auch mit zum Friedhof wolle, aber ich wollte nicht, im Rollstuhl, wissen Sie, das war mir zu mühsam.«
Dann schaute sie Isabelle an. »Als er mich fragte, wie es mir denn hier gehe, habe ich gesagt, wenn die
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