Gleis 4: Roman (German Edition)
Mappe »Wyssbrod Marcel«. Ich wickelte sie in ein Handtuch, das im Gang neben dem Brünnlein vor dem WC hing, ging damit wieder hinaus, klemmte es auf den Gepäckträger und fuhr in Richtung Rapperswil davon.
Sehr gelegen war mir die Kasse gekommen, die ich im Schreibtisch gefunden hatte. Ich hatte daraus etwa zweihundert Franken genommen, ohne die grossen Scheine darin anzurühren.
Mein Ziel war Frankreich. Ich hatte im wenigen Unterricht, den man uns gewährte, mit Eifer die zweite Landessprache gelernt, weil ich zum ersten Mal einen Lehrer hatte, der mir etwas zutraute. So radelte ich nach Zürich, wo ich gegen fünf Uhr morgens eintraf. Dort liess ich mein Velo am Bahnhof stehen und löste ein Billett nach Genf. Ich liess einen Rucksack mitlaufen, der unbeaufsichtigt vor dem Raum mit der Fahrkartenausgabe stand, und bestieg einen Frühzug nach Bern. Im Rucksack fand ich, als ich meine Dokumente darin versorgte, neben einem Picknick auch eine Mütze. Ich setzte sie mir sogleich auf, und nun war ich ein normaler Pfingstausflügler. In Bern stieg ich in den Zug nach Genf um, schlief kurz ein und erwachte wieder beim Anblick des Lac Léman, der mir unwahrscheinlich gross vorkam.
In Genf orientierte ich mich an einer grossen Karte der Umgebung am Bahnhof und wechselte fast mein ganzes Geld in französische Francs. Dann nahm ich einen Bus nach Veyrier und marschierte unbehelligt auf einem Wanderweg zum Mont Salève über die Schweizer Grenze.
Am Abend ass ich in einem Landgasthof, wo ich auch ein billiges Zimmer nehmen konnte.
Nach dem Essen setzte ich mich an den kleinen Tisch in meinem Zimmer und nahm meine Dokumente aus dem Rucksack. Ausser meinem Geburtsschein fand ich keinen Ausweis, der mir bestätigte, dass es mich gab. Meine Mutter hiess Anna-Maria Wyssbrod, mein Vater war unbekannt. Im Vormundschaftsbericht sah ich dann, dass meine Mutter mich mit 18 Jahren geboren hatte und ich »trotz heftigen Widerstands der Mutter« als Säugling von ihr weggenommen worden war, wegen »Gefährdung durch liederlichen Lebenswandel«. Als ich das las, musste ich meinen Kopf auf den Tisch legen und hemmungslos weinen. Ich hätte eine Mutter gehabt, ich war gar kein Waisenkind. Woher wollten die wissen, dass sie mich nicht hätte aufziehen können? Wo war sie? Ich war 17, also war sie erst 35, wenn sie noch lebte. Aber wieso sollte sie nicht mehr leben? »liederlicher Lebenswandel« – hiess das nicht einfach, dass sie ein uneheliches Kind zur Welt gebracht hatte, aber sonst vollkommen gesund war? Sollte ich wieder umkehren und sie suchen? Bestimmt wusste sie auch, wer mein Vater war.
Die Verhandlung vor dem Jugendgericht mochte ich nicht lesen. Als ich im Bericht aus der Erziehungsanstalt las, ich lerne gut und mit Fleiss, war ich einen Moment freudig überrascht, bis ich las, ich sei aber bockig und verstockt, Aussichten: ungünstig. Empört und ratlos schlief ich irgendeinmal ein.
Am andern Morgen war mein Entschluss rasch gefasst: Keine Rückkehr in die Schweiz, dieses elende und hundsgemeine Land, in dem ich keine Chance hatte. Bevor ich meine Eltern gefunden hätte, hätte man wohl mich gefunden, und dann käme ich wahrscheinlich in die Festung Aarburg oder sonst wohin, von wo es kein Entrinnen mehr gab. Und vielleicht war meine Mutter inzwischen verheiratet und hatte eine Familie und hätte überhaupt keine Freude, wenn ich plötzlich auftauchte. Am Ende würde sie mich wieder in die Anstalt schicken. Ab jetzt, sagte ich mir, gab es nur noch mich selbst, Marcel Wyssbrod, und ich musste mein Leben ganz und gar allein in die Hand nehmen.
Ich hatte ein solches Pech gehabt in meinem bisherigen Leben, dass ich ab jetzt Glück haben wollte, das hatte ich zugut.
Dieser Gedanke war für mich wie eine grosse Befreiung. Nach dem reichlichen Frühstück, das mir die freundliche Wirtin aufstellte, brach ich frohgemut auf, nach Marseille. Im Flur des Gasthofs hing eine Karte von Frankreich, und ich hatte mir die nächsten Stationen gemerkt, Annecy, Chambéry, Grenoble, hatte sie mir sogar aufgeschrieben, denn im Rucksack fand sich ein Bleistift und ein kleiner Notizblock.
Weit reichte mein Geld nicht mehr. Das Picknick im Rucksack, ein Landjäger, ein Stück Käse, zwei Eier und ein halber Laib Brot, eine halbe Schokolade und zwei Äpfel, war auch bei sparsamem Gebrauch bald aufgezehrt. Also versuchte ich es mit Autostop. Ab und zu nahm mich ein Lieferwagen mit. Ich fragte bei Bauern, ob ich beim Heuen helfen könne. Ich
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