Gleitflug
Monroe gesehen und kopierte ohne Skrupel seine Arbeitsweise. Vor allem übernahm sie die Technik des Transferdrucks, einer Variante des Siebdrucks. Sie machte Fotos von Kindern aus der Verwandtschaft, vor allem aber von mir, und bearbeitete sie mit Warhols Verfahren. Dabei akzentuierte sie unsere Münder oder Wangen mit fluoreszierenden Farben.
In ihrer Warhol-Periode war ich noch ein kleiner Junge. Ich besuchte sie regelmäßig zusammen mit meiner Mutter. Seit dem Tod ihres Mannes hatte sich ihr Wohnzimmer in ein labyrinthisches Atelier verwandelt. Überall standen und lagen ihre Leinwände und ihr Werkzeug. Büfetts und Schränkchen, zum Teil an den Wänden, zum Teil auch mitten im Raum, waren mit Farbdöschen und -tuben, Spraydosen, Spachteln und Pinseln bedeckt. Die Pfade dazwischen liefen in der Mitte des Zimmers bei dem Siebdrucktisch zusammen, an dem sie Warhol imitierte. Meine Mutter war empört über die Misshandlung der antiken Möbel, die ihr wohl irgendwann gehören würden, nun aber nichts mehr wert waren.
Es wird dich kaum verwundern, dass ich das Atelier meiner Oma liebte. »Karel Appel ist mit Kleckserei ziemlich weit gekommen«, sagte sie, wenn wir zusammen ein paar Farbdöschen gegen eine Leinwand warfen. Das geschah an den wenigen Tagen, an denen ich ohne meine Mutter bei ihr war. Mit Farbe zu schmeißen fand meine Mutter absurd. Ich glaube, sie fand ihre Mutter insgesamt absurd. Meine Oma war viel moderner als meine Rüben erntende und schwarzbunte Kühe melkende Mutter. Das äußerte sich schon in ihrer Kleidung. Meine Oma trug schweinchenrosa Trainingsanzüge, meine Mutter schlichte Kleider.
Ich vermute, dass meine Mutter eifersüchtig auf sie war, allerdings ließ sie sich das nie anmerken. Im Gegenteil. Wie gesagt, besuchten wir Oma Aletta regelmäßig, und oft war dann auch meine Urgroßmutter Johanna dort. Steinalt und vom Rheuma verkrümmt, aber geistig klar.
Ich hatte ein bisschen Angst vor ihr. Meistens saß sie an einem Tisch am Fenster, halb verborgen von einem Büfett und einem Stapel Siebdrucke. Sie war nicht besonders gesprächig, aber wenn sie einmal den Mund aufmachte, passierte etwas. Ihre Äußerungen lösten bei anderen sofort eine emotionale Reaktion aus. Ihr Humor tat gut, ihre Offenheit konnte wehtun.
Einmal sagte sie zu meiner Mutter, sie sei eine Ente, die zu lange auf ihrem Küken sitzen bleibe. »Du erstickst den Kleinen«, stellte sie fest. Wir saßen am Fenster, meine Mutter schabte mit einem Spachtel Farbspritzer von der Tischplatte. Sie verdrehte die Augen.
»Du sitzt auf deinem Kind und siehst es deshalb gar nicht«, fuhr meine Urgroßmutter fort.
»Natürlich sehe ich es«, entgegnete meine Mutter gereizt und schabte noch heftiger.
»Es ist nicht normal, dass er den ganzen Tag mit dir zusammen ist. Ein Kind muss mit anderen Kindern spielen und nicht immer eine alte Schrulle auf dem Hals haben.«
»Waling hat mich NICHT immer auf dem Hals«, rief meine Mutter und warf den Spachtel auf den Tisch. »Und wenn hier jemand eine alte Schrulle ist, dann bist das ja wohl du.«
»Hohoho«, brummte meine Urgroßmutter, und ihre rote Glut schien bedrohlich zu flackern, »wenn ich in diesem Ton mit meiner Großmutter gesprochen hätte, dann hätte es eine Ohrfeige gesetzt.«
O je, ich wäre am liebsten unter den beklecksten Tisch gekrochen, Gieles. Dieses Gekeife meiner Mutter und Urgroßmutter, während meine Großmutter kichernd Farbe mischte. Fast hätte ich mir vor Angst in die Hose gemacht.
Wenn ich heute daran zurückdenke, finde ich diese Momente wunderbar. Die Großmutter, von der meine Urgroßmutter sprach, war ja niemand anderes als Sophia Warrens. Unsere ganze Familiengeschichte war in solchen Augenblicken in dem chaotischen Wohnzimmeratelier präsent. Johanna war das Bindeglied zwischen der Gegenwart und der fernen Vergangenheit. Durch sie wurde diese Vergangenheit greifbar, lebendig.
Natürlich haben sich die beiden nicht nur gestritten. Wenn meine Urgroßmutter gut gelaunt war, gab sie Informationen über Sophia Warrens preis. Dann erzählte sie meiner Mutter von den zahlreichen Ausbrüchen der Cholera auf dem Polder und von Sophias Hygienemaßnahmen. Oder von dem Pferdeherz, das sie während der Schwangerschaft gegessen hatte. »Dem Herzen dieses versunkenen Gauls«, erklärte meine Urgroßmutter mit erhobenem Zeigefinger, »verdankt die Nachkommenschaft meiner Großmutter ihre eiserne Konstitution.« Danach klopfte sie auf Holz.
Damals hörte ich
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