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Gleitflug

Gleitflug

Titel: Gleitflug Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne-Gine Goemans
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mich ihren Anbau. Sie war das Haus, ich der neue Gebäudeteil und Papa das Fundament. Unser Halt. Erwürde dafür sorgen, dass wir nie im Lehmboden versanken, das wusste ich.
    Auch die Erzählkünste meiner Mutter haben viel zu meinem Glück beigetragen. Außer mir und ihren Milchkühen war ihr die Geschichte sehr wichtig. Die Geschichte ihrer Familie. Für die meisten Menschen sind ihre Vorfahren Wesen aus dem Schattenreich. Nicht für meine Mutter. Schon Jahre vor meiner Geburt hatte sie angefangen, an einem Stammbaum zu arbeiten, den sie um interessante Geschichten aus dem Leben ihrer Ahnen ergänzte. Damit meine ich die Generationen von Frauen, die von Ide und Sophia Warrens abstammten.
    Drei abgegriffene Hefte mit Tagebucheinträgen ihrer Ururgroßmutter bildeten die Grundlage für ihre Nachforschungen. Sie kannte sie auswendig. Voller Leidenschaft konnte sie von ihren Ururgroßeltern erzählen, als wäre die Trockenlegung gestern und nicht 1852 abgeschlossen worden. In ihren Geschichten wurden alle Personen lebendig, aber Sophia lag ihr ganz besonders am Herzen. Ich weiß bis heute nicht, warum. Vielleicht, weil sie – dank der Hefte – über sie am meisten erfahren hat. Vielleicht aber auch, weil sie Sophia sehr bewunderte. Nachdem Ide der Blitz erschlagen hatte, war Sophia auf sich allein gestellt gewesen. Trotzdem hatte sie ihr Versprechen erfüllt: Anna Louisa, ihre einzige Tochter, wuchs in einem Steinhaus auf und besuchte die Schule. Die beiden schliefen in dem neuen Bauernhaus im Obergeschoss, der Bauer unten. Der Bauer und sie teilten sich die Küche, die Wohnstube, die Waschgelegenheit und den Abort, das ging aus den Aufzeichnungen hervor. Doch ob der Bauer und Sophia auch das Bett teilten, blieb im Unklaren und für meine Mutter eine unerschöpfliche Quelle angenehmer Spekulation.
    »Ich glaube, es war da so etwas wie Liebe zwischen den beiden«, sagte sie manchmal nachdenklich. »Sie schreibt, dass er tagsüber regelmäßig nachgeschaut hat, ob der Säugling nochatmet. Später hat er sogar Anna Louisas Schulgeld bezahlt. Und als sie eine der ersten offiziellen Hebammen der Region wurde, war er stolz wie ein Pfau.«
    So erzählte meine Mutter, während sie kochte, die Wäsche aufhängte oder ihre Beckenbodenübungen machte. Denn ihre Muskeln waren nach meiner Geburt so ausgeleiert wie das Gummiband einer alten Unterhose.
    An manchen Tagen war sie dann wieder der festen Überzeugung, dass Sophia und der Bauer keine Beziehung gehabt hätten. »Sie schreibt immer nur ›der Bauer‹. Wenn sie etwas für ihn empfunden hätte, dann hätte sie doch bestimmt seinen Namen genannt. Den kennen wir gar nicht. Was glaubst du, Liebling? Glaubst du, sie ist ihrer großen Liebe Ide Warrens treu geblieben?«
    Wenn wir mit meinem Vater im Wohnzimmer saßen und sie irgendeinen Gedankengang mit ihrer Standardfrage »Was glaubst du, Liebling?« abschloss, dann war klar, dass ich gemeint war. Ich war ihr Liebling, und meinem Vater machte das nichts aus. Er freute sich über unsere enge Bindung, er wärmte sich daran wie an einem Ofen. Stundenlang konnten wir so plaudern, bis meine Mutter scheinbar erschrocken ausrief, es sei ja schon spät und Zeit fürs Essen.
    Meine Mutter, sie hieß Louisa, war nicht sehr systematisch in ihren Nachforschungen. Sie stöberte in kommunalen Archiven, grub Notarsakten aus, sah Grundbücher und Melderegister durch. In Bibliotheken versuchte sie aus Almanachen und alten Zeitungen etwas über die Geschichte der Frauen in der Region zu erfahren. Mit diesen Dingen war sie einen Vormittag pro Woche beschäftigt, während ich in der Schule war. Wenn sie auf etwas Interessantes stieß, vergaß sie in der Aufregung leider oft, die Quelle zu notieren.
    Einmal hatte sie zum Beispiel in einer lokalen Wochenzeitung einen Bericht entdeckt, in dem Sophia und ihre Tochter AnnaLouisa eine kleine Heldenrolle spielten. Es war eine Ausgabe aus dem Jahr 1866. Als meine Mutter nach Hause kam, war sie außer sich vor Freude und erzählte ausführlich von ihrem einzigartigen Fund. Anna Louisa Warrens war auf einem Weg in der Nähe des Hofes vier Waisenkindern begegnet. Sie waren unterernährt und unvorstellbar schmutzig. Strahlend zitierte meine Mutter, was sie gelesen hatte. »In der Zeitung stand: ›So unrein, so voller Ungeziefer, so gänzlich ohne Kleidung oder Schutz.‹ Und stell dir vor, Liebling: Anna Louisa nahm die Kinder mit nach Hause. Bevor die Polizei sie abholte, wusch Sophia sie und gab ihnen

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