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Gleitflug

Gleitflug

Titel: Gleitflug Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne-Gine Goemans
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allenfalls ein paar Minuten zu, weil ich wusste, dass sie dieselben Anekdoten noch öfter erzählen würde. Lieber vertrieb ich mir die Zeit mit Oma Aletta. Sie fotografierte mich und verpasste mir später grellviolette Lippen.
    »Was bist du doch für ein wunderhübsches Kind!«, rief sie bei den Sitzungen und hüpfte fröhlich wie ein Spatz um mich herum. »Ein vorbildliches Modell! Und süß! Ein Bild von einem Kind!«
    »Ach, hör auf. Das steigt ihm sonst noch zu Kopfe«, brummte meine Urgroßmutter hinter dem Büfett und den Leinwänden.
    Mein Vater ließ sich bei Oma Aletta nicht blicken. Wenn er die drei rothaarigen Frauen zusammen sah, wurde ihm unbehaglich. Drei Hexen nannte er sie. Auf seinem Land fühlte er sich wohler. Er liebte die Stille und die regelmäßigen Abläufe seiner Arbeit. Trotzdem war er es, der die Idee hatte, Omas Arbeiten im Rathaus auszustellen. Aletta hatte schon zwanzig kunterbunte Bilder im Warhol-Stil fabriziert, die in dem überfüllten Atelier nur im Weg standen. Auf mindestens der Hälfte davon war ich zu sehen. Eine Ausstellung würde wieder Platz schaffen, meinte mein Vater. Diesmal hörte Aletta auf ihren Schwiegersohn, was nur selten vorkam.
    Meine Mutter und ich halfen Oma, ihre Bilder im großen Ratssaal aufzuhängen. Rathausangestellte machten Stielaugen, wenn sie die Kinderköpfe mit goldenen Augenlidern, orangefarbenen Wangen und giftgrünen Haaren sahen. Ich erinnere mich an einen, der kopfschüttelnd stehen blieb und Oma fragte, wieso auf einem einzigen Bild viermal der gleiche Kopf zu sehen sei. So etwas könne er auch.
    Am Tag vor der Eröffnung, als es Zeit wurde, die Preisschildchen anzubringen, geriet Oma in Panik. Sie wollte an ihren Bildern nichts verdienen, höchstens die Kosten wieder hereinbekommen. »Ich verlange für jedes zwanzig Gulden«, sagte sie sehr bestimmt. Meine Mutter protestierte. Das sei ja wohl ein schlechter Witz, meinte sie.
    Als wir nach Hause fuhren, schimpfte sie vor sich hin. Laut, um den Motor unseres alten Opel zu übertönen. »Sophia hätte nie so einen lächerlichen Preis verlangt. Sie hätte versucht, möglichst viel herauszuholen. Ich meine, wie lebt Oma denn?! Dieser Saustall! Und ihre rosa Trainingsanzüge, nicht zum Ansehen, Liebling!«
    Ich hielt den Mund.
    »Und wir könnten auch gut ein bisschen Geld gebrauchen! So viel bringen die Rüben und die Milch ja nicht mehr ein! Und du bist auf fast allen Bildern drauf. Ich meine, wir haben auch ein Recht auf unseren Anteil, Liebling!«
    Zum ersten Mal hörte ich diesen Unterton von Unzufriedenheit. Sie klagte über unsere finanzielle Situation, über die ich nichts wusste. Vielleicht hatte sie schon öfter geklagt, vielleicht war sie schon seit langem unzufrieden, aber es war mir nie aufgefallen. Voll unterdrückter Wut saß meine Mutter am Steuer des rostigen Wagens, die große Nase fast an die Windschutzscheibe gedrückt. Hin und wieder drehte sie den Kopf und schaute mich an. Ihren Anbau. Ihren Liebling.
    Gegen Abend kam meine Urgroßmutter Johanna ins Rathaus. In den Gängen und im Ratssaal war es wie ausgestorben. Sie betrachtete die Bilder und warf einen Blick auf die Preisschildchen. Es kam nicht oft vor, aber in diesem Fall waren sich meine Mutter und meine Urgroßmutter einig, ohne es zu wissen. Auch Johanna empfand den Preis als schlechten Witz. Und schlechte Witze hasste sie. »Wenn man sich selbst zum schlechten Witz macht, wird man auch so behandelt«, lautete einer ihrer Standardsprüche. Ohne zu zögern, holte sie einen Kugelschreiber aus ihrer Handtasche und hängte an jede 20 eine weitere Null.
    Am Mittag des folgenden Tages wurde die Ausstellung eröffnet. Ich erinnere mich, dass es sehr voll war. Meine Oma wurde fotografiert und interviewt, und in ihrem Trainingsanzug voller Farbflecken sah sie wie eine richtige Künstlerin aus. Vor lauter Aufregung hatte sie rote Wangen, und aus ihrem rötlichen Dutt schauten widerspenstige Haarsträhnen wie wucherndes Schilf heraus. Ich war stolz auf meine Oma und folgte ihr überallhin.
    So bewegte sich unsere Familie im Gänsemarsch zwischen den vielen fremden Menschen, denn meine Mutter wollte mich keinen Moment aus den Augen lassen, und mein Vater trottete wiederum hinter ihr her. Er wirkte ein wenig verloren in dieser Umgebung und sah auch komisch aus, er ballte die Fäuste in den Hosentaschen und hatte deshalb ständig Hochwasser.
    Irgendwann wurde Oma Aletta von einem eleganten Herrn im schwarzen Maßanzug angesprochen.

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