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Gleitflug

Gleitflug

Titel: Gleitflug Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne-Gine Goemans
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Wagen. »Vorige Woche haben wir Dohlennester unter dem Viadukt weggeräumt. Container voll Müll.« Sein Blick war starr auf den Vogelkot gerichtet. »Sogar gebrauchte Kondome verwenden diese Vögel als Nistmaterial.«
    »Wusstest du, dass die Saatkrähe der intelligenteste Vogel ist?«, fragte Hannie. »Neulich hab ich einen Film über einen Versuch gesehen, mit einem Wurm in einem Glas Wasser, aber so weit unten, dass die Krähe nicht rankam. Sie hat dann kleine Steine in das Glas fallen lassen, bis das Wasser so hoch stand, dass sie den Wurm packen konnte.«
    »Alle Rabenvögel sind intelligent«, sagte Willem. »Eichelhäher sammeln jedes Jahr Tausende von Eicheln, die sie als Wintervorrat verstecken.«
    Fred klopfte ans Seitenfenster. »Könntet ihr bitte kurz hereinkommen?«
    Gieles und Meike saßen auf dem Sofa. Zwischen ihnen lag ein Kissen. Meikes Make-up war zu einer Art Kriegsbemalung verlaufen. Sie erinnerte an die Maori auf einer Ansichtskarte, die Ellen einmal aus Neuseeland geschickt hatte.
    Fred blieb auf seine Krücke gestützt stehen und ergriff das Wort. Es gelte folgende Abmachung, sagte er förmlich. Meike dürfe in den kommenden Wochen auf dem Hof bleiben, sofern sie sich einen Job suche. Sie solle sich ihr Geld selbst verdienen. Und sie dürfe sich keine neue Tätowierung machen lassen, sonst müsse sie sofort zurück nach Hause.
    »Und auch keine neuen Pierzings«, ergänzte Angeliek, die allein auf dem zweiten Sofa saß. Ihre Augen waren rot, ihr Gesicht blass. Auf ihrem Schoß lagen zerknüllte Taschentücher.
    »Natürlich, keine neuen Piercings. Ist das abgemacht, Meike?«
    Onkel Fred zog die Augenbrauen hoch. So energisch erlebte man ihn selten. »Meike?«
    »Von mir aus«, sagte sie in gelangweiltem Ton und balancierte auf ihren Plateausohlen würdevoll aus dem Zimmer.

    Lieber Gieles,
    du wolltest wissen, warum ich so geworden bin, wie ich bin. Um es mit meinen eigenen Worten zu sagen: so unmenschlich dick. Ich habe versprochen, dir die ganze Geschichte zu erzählen. Von A bis Z.
    Ich kann niemanden für mein extremes Übergewicht verantwortlich machen. Ich bin selbst schuld. Und ich kann meine heutige Situation auch nicht ohne weiteres auf jenen Tag zurückführen, der mein Leben (und das meiner Eltern) für immer verändert hat. Der Zusammenhang würde fehlen. Deshalb habe ich ganz am Anfang angefangen. Du weißt ja schon, wer meine Urahnen waren. Betrachte das Folgende als die erste Hälfte des Alphabets. Für die zweite muss ich noch die richtigen Worte finden. Lies es nur dann, wenn du Lust und Zeit hast.
    Ich freue mich auf Samstag!
    Mit den herzlichsten Grüßen, Waling
    Meiner Mutter bedeuteten ihre schwarzbunten Kühe mehr als kostbarer Schmuck. Mein Vater war verliebt in sein Land. Sobald die ersten Rübenpflänzchen herauskamen, kroch er vorsichtig über den Acker, um sie zu pflegen. Mit ausgewachsenen Rüben könnte man einen Riesen erschlagen, aber am Anfang sind es ganz zarte Pflänzchen, verletzlich wie Säuglinge.
    Meine Eltern waren schlichte Menschen ohne große Ambitionen. Das einzig Vornehme an ihnen war der Nachname meines Vaters: Cittersen van Boven. Ein Nachname, der nicht zu ihm passte, doch auch darüber beklagten sie sich nicht. Sie waren zufrieden mit ihrem Leben. Für uns (und sehr viele andere) sollte ein furchtbares Unglück alles verändern, aber davon später mehr.
    Ich war das langerhoffte Kind. Als ich 1965 von meiner achtundvierzigjährigen Mutter zur Welt gebracht wurde, nannten mich meine Eltern ein Wunder. Immer hatten sie sich ein Kind gewünscht, doch inzwischen hatten sie sich damit abgefunden, dass sie keins mehr bekommen würden. Sie waren in einem Alter, in dem manche anderen schon Großeltern wurden, und sie blickten mehr zurück als nach vorn. Und dann kam ich, dieses kreischende Etwas, und mit mir eine neue Zukunft, strahlend und zerbrechlich wie ein junges Rübenpflänzchen.
    Vom ersten Tag an hing ich wie ein Saugnapf an meiner Mutter. Zuerst auch buchstäblich: Sie gab mir bis zu meinem dritten Lebensjahr die Brust. Später hielt ich mich am Saum ihrer langen Röcke fest und trottete hinter ihr her, den Daumen im Mund. Wo sie war, war auch ich. Tag und Nacht. Im Bett meiner Eltern schob ich Papa meinen Po ins Gesicht, damit ich sie ganz für mich allein hatte. Ich schmiegte mich an ihren Kopf und drehte im Schlaf Knoten in ihre roten Haare. Meinen Eltern machte es nichts aus. Ihre Liebe zu mir kannte keine Grenzen. Meine Mutter nannte

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