Gleitflug
Er befragte sie über ihre Arbeit, und sie plauderten über New York. Meine Oma tat plötzlich sehr kokett, als wolle sie diesen Mann verführen, der mindestens zwanzig Jahre jünger sein musste. Schließlich kündigte er an, zehn ihrer Bilder zu kaufen. Das brachte sie völlig aus der Fassung. »Wie, zehn?«, stammelte sie erschrocken. »Mein Gott. So viel?! Unglaublich …«
Nach einer Weile hatte sie sich von dem Schreck erholt und benahm sich albern wie ein Schulmädchen. Neugierig gesellte sich meine Mutter zu den beiden.
»Dieser Herr ist von einer Bank«, kicherte meine Oma, »und er möchte zehn Bilder kaufen! Ist das nicht fan-tas-tisch?«
»Ja, das ist wirklich fan-tas-tisch«, sagte meine Mutter spöttisch. Sie war immer noch wütend wegen der zwanzig Gulden.
Plötzlich stand ein Fotograf neben meiner Oma und zupfte am Ärmel ihrer Trainingsjacke.
»Ach, das hatte ich ganz vergessen!«, rief sie mit ihrer neuen Mädchenstimme und fuchtelte nervös herum. »Das Foto! Ich werde fotografiert!« Sie schaute meine Mutter an. »Mein Schatz, der Fotograf will mich draußen aufnehmen. Würdest du denHerrn bitte begleiten«, sie warf ihm ein strahlendes Lächeln zu, »damit er dir zeigen kann, welche Bilder er haben möchte?«
Und schon war sie fort. Der Banker und ich folgten meiner Mutter, die sich mit großen Schritten einen Weg durch die Menge bahnte. Er versuchte noch ein wenig mit mir zu plaudern, jedenfalls sagte er so etwas wie »Bald hängst du in all unseren Filialen« und streichelte über mein Haar.
Unter dem ersten Bild, auf das er zeigte, drückte meine Mutter ein Stück rotes Klebeband auf die Wand, und da sah sie es.
»Was ist denn das?«, sagte sie verblüfft. Sie starrte das Preisschildchen an, und ihr klappte buchstäblich der Unterkiefer herunter. Der Mann fragte, ob etwas nicht stimme.
»Der Preis … der stimmt nicht … die Null …«
Hektisch lief sie zu sämtlichen Bildern, um die Preisschilder zu kontrollieren. Bückte sich vor jedem, setzte die Lesebrille auf und wieder ab. Ich wartete neben dem Banker und beobachtete sie. Plötzlich spürte ich eine Hand in meinem Nacken. Hinter mir stand meine Urgroßmutter Johanna.
Rot vor Aufregung kam meine Mutter zurück.
»Die Prei … Preise …«, stotterte sie.
Sie schaute meine Urgroßmutter an und wippte dabei seltsam auf ihren Füßen, als würde sie irgendeine komische Beckenbodenübung machen. Meine Urgroßmutter zog leicht die Augenbrauen hoch. Nicht mehr als einen Millimeter, aber meine Mutter wusste Bescheid.
»Muss ich Sie so verstehen, dass auf den Schildchen eine Null fehlt?«, fragte der elegante Herr.
»Fehlt?«, echote meine Urgroßmutter und schnappte nach Luft.
»Die Bilder sollen also nicht zweihundert, sondern jeweils zweitausend kosten?«, hakte er nach, ohne eine Miene zu verziehen.
»Tja, ich habe die Preisschilder für meine Tochter geschrieben«, erklärte meine Urgroßmutter. Ihre Stimme zitterte ein wenig. »Ich bin weit über neunzig, wissen Sie. Alt und vergesslich.« Sie tippte sich mit ihren Rheumafingern auf die Schläfe.
»Das ist ein beträchtlicher Unterschied.« Der Banker schaute auf seine Armbanduhr »Zweihundert oder zweitausend.«
»Ja, das ist … ein sehr großer … Unterschied«, bestätigte meine Mutter mit einem naiven Augenaufschlag, der an ihre Schwarzbunten erinnerte.
Der Mann ignorierte ihr Gestammel und wandte sich an meine Urgroßmutter. »Wir könnten uns ein wenig entgegenkommen. Sechs zum Preis von zweihundert, vier für zweitausend. So halten wir den Schaden für beide Seiten in Grenzen.«
Das rote Haar meiner Urgroßmutter schien wie ein Waldbrand aufzulodern. In verschwörerischem Ton flüsterte sie dem Banker zu: »Das darf aber meine Tochter nicht erfahren!«
Da die übrigen zehn Bilder ebenfalls Käufer fanden, verdiente meine Oma an diesem Tag mit zwanzig ihrer Werke 11 200 Gulden. Das waren 10 800 Gulden mehr, als sie hatte haben wollen. Sie war außer sich, bezeichnete ihre Mutter und ihre Tochter als Gierschlünde und Aasgeier. Meine Urgroßmutter brachte vor, es gehe gar nicht ums Geld, sondern um Respekt. Meine Mutter behauptete, die Banken knöpften den kleinen Leuten ja auch mehr als genug ab. Ich hatte wie erwähnt nicht gewusst, dass meine Eltern mit den Rüben nicht über die Runden kamen.
Es vergingen Wochen, bis Oma Aletta das Komische an der Sache sah. Als es dann so weit war, hätte sie sich vor Lachen fast in die rosa Trainingshose gemacht.
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