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Gleitflug

Gleitflug

Titel: Gleitflug Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne-Gine Goemans
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Allerdings hat sie trotz dieses Erfolges, und obwohl meine Mutter sie immer wieder drängte, nie mehr etwas ausgestellt.
    Wie ich schon sagte, Gieles: Meine weiblichen Vorfahren waren außergewöhnlich starke Frauen mit einem rebellischen Humor. Sie spielten die Hauptrolle in meiner beschützten und übersichtlichen Welt, deren Untergang am 4. Oktober 1979 begann. Das war der Tag, an dem meine Urgroßmutter Johanna sich im Schlaf für immer davonmachte. Zeit zum Trauern war uns nicht vergönnt, denn einen Tag später stürzte ein Flugzeug auf einen unserer Rübenäcker. Es war kurz nach sechs Uhr morgens; meine Mutter und ich lagen noch im Bett, als wir einen dumpfen Knall hörten. Das ganze Haus bebte. Ich rannte zum Fenster und sah im Dämmerlicht eine Verkehrsmaschine auf dem Acker liegen. Wie ein gewaltiger Kranich, der gegen ein Hindernis geflogen ist und sich sämtliche Knochen gebrochen hat. Im Schlafzimmer meiner Eltern hörte ich meine Mutter schreien. »O nein! Walter! Walter!«
    Es war Erntezeit. Mein Vater ging immer in aller Herrgottsfrühe aufs Feld. Vielleicht lag er jetzt unter dem Kranich. Wir rasten die Treppe hinunter und stießen an der Haustür mit meinem Vater zusammen, der gerade hereingestürmt kam.
    »Walter! Mein Gott, Walter!«, schluchzte meine Mutter und klammerte sich an ihn.
    »Das Flugzeug, habt ihr das mitbekommen?« Er wirkte beherrscht. »Ich muss sehen, was ich tun kann.« Er löste sich von meiner jammernden Mutter und ging wieder hinaus. Ich zögerte keinen Moment, zog eine Jacke über meinen Schlafanzug und schlüpfte in meine Stiefel. Ich war vierzehn (also ungefähr so alt wie du jetzt), und ich freute mich, dass ich etwas so Aufregendes und Sensationelles erleben konnte. Meine Mutter blieb an der Tür stehen und rief uns hinterher, die Maschine könne in die Luft fliegen. Dabei war sie doch gerade aus der Luft gefallen.
    Wir rannten über die Äcker, ohne Rücksicht auf die Rüben. Es war immer noch dämmerig, aber wir sahen genug, um zu wissen, dass sich eine Katastrophe ereignet hatte. Die Tragflächen waren abgebrochen, ein breiter Riss klaffte in dem weißen Rumpf, das Cockpit war fast weggerissen worden.
    Das ist vorerst alles, Gieles. Für die zweite Hälfte meiner Geschichte muss ich erst noch nach den richtigen Worten suchen. Fortsetzung folgt!

23
    Super Walings Geschichte gab ihm Rätsel auf. Gieles hatte sie am Vorabend ausgedruckt, die Blätter lagen auf seinem Schoß. Was stand in der Mail, an die der Bericht angehängt war? Ich kann meine heutige Situation auch nicht ohne weiteres auf jenen Tag zurückführen, der mein Leben (und das meiner Eltern) für immer verändert hat .
    Bezog sich das auf den Flugzeugabsturz? Wieso hatte er noch mit keinem Wort die Erbschaft erwähnt? Kam die im zweiten Teil an die Reihe, wie sein Übergewicht? Es war frustrierend, dass er immer noch nicht mehr wusste. Er betrachtete wieder Dollys Klassenfoto mit Super Waling.
    Es war erst Viertel vor acht. Ihm fiel Johan ein, den konnte er nach dem Crash vom 5. Oktober 1979 fragen. Er nahm Wallie unter den Arm und schlich die Treppe hinunter. Sie passte nicht mehr unter sein Sweatshirt. Vor Meikes Zimmer blieb er stehen und schaute sehnsüchtig auf die geschlossene Tür, bis Wallie zu schnattern anfing.
    Draußen gab er den Gänsen ein paar Kekse mehr als sonst. Er hatte ein schlechtes Gewissen. Seit Meike mit ihrem Kindersarg aufgetaucht war, hatte er zu viel an sie gedacht und zu wenig an seine Gänse. Er vergaß ständig, mit Tufted und Bufted zu trainieren. Den Brief an Christian Moullec hatte er immer noch nicht abgeschickt. Auch das Tischtennisspielen mit Wallie hatte er vernachlässigt. Das Einschlafen war eine Katastrophe. Wenn er im Bett lag, kreisten seine Fantasien um Meike und ihn, im Wäldchen. Dort herrschten immer ideale Bedingungen. Manchmal sah er einen Wasserfall und darinMeike mit glänzenden Brüsten. Außerdem gab es mehrere Obstbäume, und er kletterte in seiner O’Neill-Surferhose gelenkig darin herum. Dann schob er ihr Pfirsich- oder Birnenstückchen zwischen die Lippen, die er anschließend ableckte. Er gestaltete das Wäldchen und die Geschehnisse darin seiner Stimmung entsprechend, und seit Meikes Ankunft war er vor allem geil.
    Aber in der vergangenen Nacht waren seine Fantasien gestört worden. Immer wieder kam ihm Waling mit seinen Großmüttern und dem abgestürzten Flugzeug in die Quere.
    In der Scheune stieß die aggressive Gans wütende Schreie aus. Er

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