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Gleitflug

Gleitflug

Titel: Gleitflug Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne-Gine Goemans
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zu essen. Und als sie sauber waren, erkannten sie sich gegenseitig nicht mehr. Ist das nicht unglaublich, Liebling? Und ist es nicht großartig, dass diese Geschichte in die Zeitung gekommen ist?«
    Aber wenn ich sie fragte, ob sie von den betreffenden Artikeln oder Unterlagen eine Kopie gemacht habe, schlug sie sich theatralisch auf die Stirn und rief: »Das habe ich völlig vergessen!« Manchmal zweifelte ich an der Wahrheit ihrer Geschichten.
    Später, als ich selbst etwas systematischere Ahnenforschung betrieb – da war der Kontakt zu meiner Mutter schon endgültig abgebrochen –, stellte ich allerdings fest, dass sie nicht ein einziges Wort erfunden hatte. Doch ich will nicht vorgreifen, Gieles.
    Schon bald nach dieser Entdeckung begann wie immer das spielerische Spekulieren. Sie machte ihre tägliche Beckenbodenübung, stützte sich auf Hände und Knie und schob langsam das Gesäß nach hinten, und dabei dachte sie laut nach. »Sophia wird gezögert haben, diese schmutzigen Kinder auf den Hof zu lassen. Sie hatte immer große Angst, ihre Tochter zu verlieren. Und damals war wieder einmal eine Choleraepidemie ausgebrochen, die entsetzlich viele Opfer forderte. Ich darf gar nicht daran denken, sonst bekomme ich Gänsehaut. Wenn man nur ein einziges Kind hat, ist man so verwundbar, Liebling.« Dannschob sie sich langsam wieder in die Ausgangsposition zurück. »Andererseits, Sophia hatte ein ungewöhnlich großes Herz. Das Schicksal der armen Schlucker in den elenden Hütten war ihr immer schon nahegegangen, auch als sie selbst noch ein Mädchen war. Und Anna Louisa war nun schon ungefähr acht. Ich meine, sie war nicht mehr ganz so anfällig.«
    Und damit hatte sie recht. Wie ich dir schon gesagt habe: Die ganze weibliche Linie von der Ururgroßmutter meiner Mutter an war aus hartem Holz geschnitzt. Sophia Warrens starb 1915 im Alter von neunzig Jahren. Anna Louisa ist zweiundachtzig geworden, sie wurde an dem Tag beerdigt, als die Deutschen Rotterdam bombardierten. Und Sophias Enkelin, Johanna, hat sogar das biblische Alter von neunundneunzig erreicht. Nur die Ehemänner dieser Frauen wurden nicht viel älter als sechzig.
    Johanna war meine Urgroßmutter (ich hoffe, du verlierst nicht den Faden). Ich erinnere mich gut an sie. Wie meine Mutter und Großmutter hatte sie dichtes rotes Haar, das ihren Kopf noch im hohen Alter wie eine rötliche Glut zu umgeben schien. Außer der Haarfarbe hatten diese Frauen auch etwas anderes gemeinsam: eine außergewöhnliche Kraft und einen rebellischen Humor. Ich werde dir eine Anekdote erzählen, die viel über ihren Charakter sagt.
    Meine Oma wurde in ihren späteren Jahren Künstlerin. Und sie war ehrgeizig. Auf keinen Fall wollte sie zu den Frauen gehören, die aus Langeweile läppische Aquarelle pinseln. Mit Mitte fünfzig wurde sie noch an einer Kunsthochschule zum Studium zugelassen. Sie hatte als Arbeitsprobe eine Serie experimenteller Landschaftsgemälde eingereicht. Technisch ließen ihre Arbeiten viel zu wünschen übrig, aber die Aufnahmekommission war sehr angetan von ihrer exotischen Darstellung unserer Polderlandschaft. Auf einem Bild wechselten sich zum Beispiel Streifen aus ockergelbem Wüstensand und schwarzem Lehm ab. Ichpersönlich finde ihre Bilder mittelmäßig, aber als Kind war ich stolz, dass meine Oma Aletta Künstlerin war. Und was für eine! Sie begeisterte sich für die Pop Art, eine Strömung der modernen Kunst, die genau zum Zeitgeist der sechziger Jahre passte, du hast bestimmt schon davon gelesen. Im Grunde ging es dabei um Freiheit in allen Lebensbereichen. Meine Oma hatte eine Ausstellung von Andy Warhol in New York besucht und war seitdem fasziniert von seinem Werk. Vor allem das Ironische seiner Kunst sprach sie an, und dass er sich nicht an überkommene Normen hielt, sondern Kunst aus Alltagsgegenständen machte. Sie hatte nicht das Bedürfnis, »bewusstseinserweiternde« Drogen zu nehmen oder mit Blumen im Haar herumzulaufen. Ihr ging es um die Freiheit, die der Wandel brachte, so drückte sie es aus. Als ihr verstorbener Mann (sie bezeichnete ihn als Langweiler) zehn Jahre auf dem Friedhof lag und sie gefragt wurde, ob sie das Grabrecht verlängern lassen wolle, sagte sie: »Räumt ihn weg. Er kann Platz machen für den Nächsten.« Sie hatte seinen Tod als Befreiung empfunden und wollte ihre Freiheit in Kunst umsetzen.
    Was Oma Aletta in ihrem Atelier produzierte, war eigentlich nichts Besonderes. Sie hatte Warhols Bilder von Marilyn

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