Gleitflug
atmete auf.
»Ich bin Löwe.« Sie wühlte mit dem großen Zeh in dem Berg aus Dreadlocks. »Der weibliche Löwe und die männliche Jungfrau passen nicht zusammen, hab ich gelesen. Löwen sind offen und Jungfrauen verschlossen.«
»Wo hast du das gelesen?«
»In irgendeinem Klatschblatt.«
»Da steht doch nur Schwachsinn drin.«
Meike hob eine Filzlocke vom Boden auf. Sie hielt sie sich kurz an die Oberlippe und steckte sie dann in die Hosentasche. Schweigend kehrte sie das Haar auf ein Blech. Anschließend wischte sie mit einem Tuch die Theke ab. Gieles wollte ihr sagen, wie schön ihr Gesicht war, schluckte die Bemerkung aber hinunter. Seit der blutigen Konfrontation mit Toon vor drei Tagen herrschte zwischen ihnen ein merkwürdiges Schweigen. Sie wussten beide, was an jenem Abend passiert wäre, hätte nicht Toon auf sie gewartet. Vielleicht hätten sie nicht alles gemacht. Das, wovon Toon dauernd redete, musste nicht unbedingt sein, noch nicht. Aber er hätte Meike gern mit seinem Mund erforscht. Ihren Mund, ihren Hals. Er hätte gern ihre Brüste berührt, gern selbst gespürt, warum Brüste so aufregend waren. Doch ihr Mund und der Rest ihres Körpers schienen sehr weit weg zu sein. Meike hatte danach nicht mehr Klavier auf seinemBauch gespielt und nicht mehr den Kopf an seinem Rücken gerieben.
An dem Abend hatte Onkel Fred ihren gerupften Schädel verarztet, während Willem Toon ins Auto zerrte und zu seinen Eltern fuhr. Am nächsten Tag hatte sie sich im Gästezimmer eingeschlossen, bis Onkel Fred sie durch die Tür zum Abendessen rief und hinzufügte, er müsse sonst ihre Eltern benachrichtigen.
Dolly kam mit ihren Einkäufen zurück. »Jetzt wird’s aber wirklich Zeit«, sagte sie im gewohnten ungeduldigen Ton. Seit sich ihre Wegzugspläne zerschlagen hatten, war auch ihre gute Laune verflogen.
Meike setzte sich auf den Beifahrersitz. Sie betastete dauernd ihre Stoppeln. Er saß mit Wallie hinten und betrachtete den vollkommenen Hinterkopf.
»Willem und Fred werden dich nicht wiedererkennen«, meinte Dolly. »Du siehst aus wie Demi Moore, als sie sich für den Film Die Akte Jane hat kahlscheren lassen. Da hatte sie auch so einen schönen Kopf.«
»Nie gehört«, sagte Meike und befühlte wieder die Stoppeln.
»Bei den meisten Menschen sieht man am Schädel hässliche Knubbel oder Vertiefungen. Oder Narben.«
Gieles überlegte, wie schnell Haare nachwuchsen. Würde sie am Ende des Sommers wieder langes Haar haben, würde sie mit schwarzen Dreadlocks und schwarz bemalten Lippen nach Zundert zurückkehren? Als wäre sie nie fort gewesen? Und würde sein Mund sie bis dahin berührt haben?
Wird das was mit uns?
Er schob Wallie von seinem Schoß. Sie wurde ihm plötzlich zu schwer. Die kleine Gans machte zwei Schritte zum Seitenfenster und streckte neugierig den Hals. Sie fuhren an dem schnurgeraden Kanal entlang, auf dem Enten und Blässhühner schwammen. Wallie schüttelte ihr Federkleid und tippte mit dem Schnabel an die Scheibe.
Vor dem Hof setzte Dolly ihre Fahrgäste ab. Meike rannte ins Haus, um sich dort mit ihrem verwandelten Äußeren zu präsentieren. Gieles schaute in den Briefkasten. Keine Post von Christian Moullec.
Alle drei waren in der Küche. Meike drehte sich um die eigene Achse und freute sich über die Komplimente. Willem lehnte sich an die Spüle, in der Hand eine Flasche Bier. Gieles sah seinem Gesicht an, dass etwas nicht stimmte. Er hatte den gleichen Blick wie vor drei Tagen in der Scheune, als er an der Kiste für Wallie arbeitete. Toon? Hatte Toon jetzt die anderen Gänse umgebracht? Wenigstens Wallie konnte nichts passiert sein. Vielleicht wartete Toon ja auch im Wohnzimmer, um sich zu entschuldigen.
»Dieses helle Blond steht dir ausgezeichnet«, wiederholte Onkel Fred.
Willem schaute Gieles in die Augen. »Ellen kommt Samstag nach Hause.«
»Nach Hause?« Gieles traute seinen Ohren nicht.
»Ja. Zu uns. Dieses Behelfskrankenhaus, in dem sie war, ist beschossen worden. Sie wurde am Oberarm getroffen, aber es ist nichts Ernstes. Sie hat Glück gehabt. Anders als die beiden spanischen Ärzte, die sind tot.«
Gieles ließ sich auf einen Stuhl fallen. Samstag? Das konnte doch nicht wahr sein. Heute war Dienstag! Nur noch drei Tage. Drei! Und Moullec hatte noch nicht geantwortet.
»Du meinst wirklich diesen Samstag?«, fragte er entsetzt.
Sein Vater nickte.
»Aber das ist drei Wochen früher!«
»Ja, bist du denn nicht froh, sie so bald wiederzusehen?« Offenbar
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