Gleitflug
ist nach Amerika gegangen. Sie wohnt seit fünf Jahren in Santa Barbara in Kalifornien. Sie hat einen Mann und zwei kleine Kinder.«
»Ach! Ich dachte, sie konnte keine Kinder bekommen!«
»Hinterher hat sich herausgestellt, dass es an mir lag.«
»Sei froh, dass du keine kriegen konntest«, sagte sie und schnaubte durch die Nase. »Meine Mutter behauptet, wegen mir bekommt sie irgendwann ’nen Herzinfarkt. Sie mochte mich nur, als ich ein Baby war.«
»Ich hätte gern eine Tochter wie dich gehabt.«
»Hör auf. Mit Piercings und Tattoos, was?«
»Mit Piercings und Tattoos. Ehrlich gesagt, ich hätte auch gern ein Tattoo.«
» DU ? Ha!« Sie schlug vor Vergnügen auf die Rückenlehne. »Ja, das wär krass, Waling!« Sie kroch auf dem Sofasitz zu ihm hin, griff nach seinem Arm und streifte den Ärmel seines JOHNNY-CASH-IS-A-FRIEND-OF-MINE -Shirts hoch. »Da drauf könntest du ein ganzes Pumpwerk unterbringen. Oder zwei! Zwei Pumpwerke!« Sie skizzierte mit dem schwarz lackierten Nagel ihres Zeigefingers die Umrisse.
Es klingelte. »Ich geh schon«, sagte Gieles. Vom Hunger und vom Likör war ihm etwas übel.
Es war der Spareribskurier. Gleich danach kam auch der Pizzadienst. Während Meike mit Ideen für Walings Tätowierung um sich warf (»Keltische Kreuze! Ein Totenschädel! Ein Arschgeweih! Oder Klopfer, das Kaninchen aus Bambi , überm Knöchel!«), packte Gieles das Essen aus. Die Calzone war aufgegangen, der Karton durchweicht. Die Pizza Veggi war doch eine Bianca, und die Spareribs waren nur noch lauwarm. Gieles setzte sich aufs Sofa gegenüber und aß gierig. Bald waren seine Lippen rot von der Marinade. Meike rauchte und riss zwischendurch kleine Stückchen von ihrer Calzone ab. Waling aß ordentlich mit Messer und Gabel wie in einem vornehmen Restaurant, seine Pizza hatte er vom Karton auf einen großen Teller geschoben. Gieles sah ihn zum ersten Mal etwas essen.
»Du brauchst ein Tattoo, das zu dir passt«, verkündete Meike und blies Rauch zur niedrigen Decke hinauf. »Nicht irgendwas. Ich kenn einen Jungen, der spielt das Versuchskaninchen für Tätowierer, die noch Anfänger sind. Auf seiner Haut gibt’s keine freie Stelle mehr. Eine Nixe auf seinem Unterarm hat ein Gesicht, das ist total schief.« Sie zog eine Grimasse. »Schlaganfallnixe nennt er sie.«
Super Waling wischte sich den Bart mit einer Papierservietteab. »Für meinen Körper wäre jedes Tattoo noch zu schade. Ich muss erst abspecken. Gründlich abspecken.«
Sie hob den Zeigefinger. »Man ist so dick, wie man sich fühlt.«
»Mein Übergewicht ist keine Gefühlssache mehr.«
»Und was für ein Tattoo würdest du dir machen lassen, wenn du gründlich abgespeckt hast?«
»Irgendetwas mit Schlamm«, sagte Super Waling und schnitt ein weiteres Stück Pizza ab. »Mit Schlamm fängt alles an.«
»Heftig«, meinte Meike.
»Das ist doch Quatsch«, sagte Gieles schmatzend. »Schlamm auf deinem Arm, das sieht ja aus wie Scheiße.«
»Du hast recht. Tja … ich hab’s! Das Gesicht von Sophia Warrens würde ich mir auftätowieren lassen. Meiner Urururgroßmutter.«
»Ja, weißt du denn, wie sie aussah?«, fragte Meike.
»O ja. Ich habe zwar kein Foto und kein gemaltes Porträt von ihr, aber trotzdem habe ich eine ganz klare Vorstellung.«
Meike schüttelte den Kopf. »Aber du hast sie doch nicht gekannt?! Urur … wann war das?«
»Sophia lebte von 1825 bis …«
»1915«, ergänzte Gieles und biss in eine der merkwürdig riechenden Röstkartoffeln.
»Du vergisst wirklich nichts.«
»Also hast du sie nicht gekannt. Dann hat das Tattoo gar nichts mit ihr zu tun.«
»Ich kenne sie, weil ich ihre Geschichte kenne.«
Gieles nickte. Er wusste auch, wie sie aussah. Sogar nackt.
Meike drückte ihre Kippe auf den abgenagten Spareribs aus. »Ich würd ein Pumpwerk nehmen. Auf dem Rücken, ganz groß. In genau denselben Farben wie auf den Bildern von deiner Oma.«
»Das ist eine noch viel bessere Idee«, sagte Waling gerührt. »Für welches würdest du dich entscheiden?«
»Das goldene mit den violetten Dingern, die rausragen«, erklärte sie, ohne zu zögern. »Das find ich noch geiler als die anderen.«
»Mit ›Dingern‹ meinst du die Hebelarme der Pumpen. Gut, du kannst es haben.«
»Wie, haben?«
»Du kannst das Bild mitnehmen. Es ist für dich.«
»Du spinnst.«
»Nein, wirklich. Nimm es dir«, sagte er aufmunternd.
Meike ging zur Wand und hängte das Bild vorsichtig ab. Sie betrachtete es minutenlang, es schien sie
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