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Gleitflug

Gleitflug

Titel: Gleitflug Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne-Gine Goemans
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nicht mehr loszulassen. Gieles schaute in ihre Richtung, aber weil es nicht so aussehen sollte, als starre er sie an, ließ er den Blick über die Zimmerdecke, die Schweizer Alpen, die Fliesen, den Holztisch schweifen. Dabei fielen ihm zum ersten Mal die verblassten Farbspuren auf den Tischbeinen und am Rand der Platte auf. Eindeutig ein Erbstück von Walings Oma. Die abgenutzten Stühle wahrscheinlich auch.
    Meike legte das Bild auf den Tisch und wischte sich mit einem Zipfel ihres T-Shirts die Wangen ab. »Scheißwimperntusche«, sagte sie, ging zu Waling und küsste ihn auf den Dreitagebart. »Komm, wir spielen Reise nach Jerusalem. Wird Zeit, dass wir richtig Geburtstag feiern.« Sie nahm seine Hand und versuchte ihn vom Stuhl zu ziehen, brachte aber keine Bewegung in seine Masse.
    Meike saß auf dem Gepäckträger. Sie hatte die Hände unter sein T-Shirt geschoben, auf Bauchhöhe. Ihre kleinen Finger fühlten sich kühl und gleichzeitig glühend heiß an. Langsam bewegte sie das Gesicht an seinem Rücken hin und her, als wolle sie es abtrocknen. Dabei redete sie ununterbrochen. Über Shampoos. Musik. Das geschenkte Bild, das Super Waling demnächst mitbringen wollte. Gieles fuhr langsam. Um die Gefühle, die dasalles in ihm auslöste, so lange wie möglich zu bewahren. Am Wäldchen würde er anhalten und ihre Hand nehmen. Selbstsicher.
    I’m sure I can do it.
    Heute Nachmittag, bevor er losfuhr, hatte er ziemlich viele Blätter aus dem vierten Band von So lernst du Vögel kennen geopfert.
    Mitten auf der Straße stand Toon, in zweihundert Metern Entfernung. Es war dämmerig, und Gieles sah ihn erst jetzt. Er erschrak. Toon wartete, die Hände in den Hosentaschen. Sein Gesicht war nicht zu sehen, aber seine Haltung sagte genug. Das Gefühl von Erregung und Triumph in Gieles’ Bauch wich einer Mischung von Angst und Wut. Sie hatten sich noch nie geprügelt. Umkehren war unmöglich. Gieles wollte nicht zeigen, dass er Angst hatte, außerdem würde Toon sie leicht einholen.
    Er fragte sich, ob es weh tun würde. Er dachte an die misshandelten Zimmerwände und an den Jungen auf dem Jahrmarkt, dem Toon mit seinem Helm einen Kopfstoß verpasst hatte, weil er sich am Booster vordrängte.
    Wie in Zeitlupe fuhr er auf ihn zu, während Meike summend auf seinem Bauch Klavier spielte. Der glänzende Schädel war jetzt deutlich zu erkennen. Toon trug eine Tarnhose und ein ärmelloses Shirt. Seine ohnehin kleinen Augen waren zu Schlitzen verengt. Offensichtlich war das Gehackte hinter Raven Alexis und an den anderen Stellen lebendig geworden.
    Vier Meter vor ihm hielt Gieles an. Sie waren ganz nah am Hof. Mit ein bisschen Glück konnten sein Vater und Onkel Fred ihn hören, wenn er schrie. Aber er würde nicht schreien. Meike stieg ab, mit einem Arm umfasste sie noch seine Taille.
    »Wer ist das?«, fragte sie schläfrig.
    Gieles sah, dass Toon noch wütender wurde. Nie zuvor hatte Toon ihn mit einem Mädchen gesehen, und jetzt klammerte sich ein Mädchen sogar an ihn.
    »Das ist Toon Keijzer. Er wohnt in der Gegend«, antwortete er und wusste, dass er mit »Er wohnt in der Gegend« weiteres Öl ins Feuer goss. Zum ersten Mal gab er Toon zu verstehen, dass ihre uralte Freundschaft für ihn zu Ende war. Von jetzt an war Toon irgendjemand, der in der Gegend wohnte.
    »Ach so, der«, sagte Meike.
    Toon kam drohend auf sie zu und blieb unmittelbar vor dem Vorderrad stehen.
    »Du hast das Fleisch in meinem Zimmer versteckt.« Er drückte rhythmisch mit dem Knie gegen den Reifen.
    Meike schaute auf das Knie und dann hinauf zu Toons starrem Gesicht über ihr.
    »Mich triffst du damit nicht«, fuhr er fort. Mit einem röchelnden Geräusch blies er Schleim in den Mund und spuckte ihn neben Gieles’ Schuh. »Aber meine Mutter fand die Sauerei mit den Maden nicht witzig.«
    »Sauerei mit den Maden?«, echote Meike. Sie lehnte sich an Gieles wie an eine Theke. Seit den zwei Gläsern Malibu pur war sie etwas wacklig.
    »Halt’s Maul, du Zwergentusse.« Er klemmte das Vorderrad zwischen die Beine und streckte sein Aknekinn vor.
    »Zwergentusse?!«, rief Meike lachend. »Hörst du das, Gieles, der Creep kann sprechen!«
    Toon starrte Meike auf eine Weise an, die Gieles Angst machte.
    »Ey, Slob, kannst du echt nix Besseres kriegen als so ’ne hässliche Schlunze mit Sprachfehler?« Er griff mit beiden Händen nach dem Lenker.
    Meike war sofort nüchtern. Sie holte tief Luft und brüllte: » DAS MUSST DU GERADE SAGEN, DU PATIENT!

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