Gleitflug
«
Verblüfft von ihrer gewaltigen Stimmkraft starrte Toon sie an. Dann fragte er: »Was hast du gesagt?« Er ließ den Lenker los und baute sich vor ihr auf. Seine Nüstern waren erschreckendweit aufgerissen. »Sag das noch mal, aber denk dran, dass ich niemand diskriminiere, ich schlag auch hässliche Schlunzen in ihre Schlunzenfresse.« Auf das Wort Patient reagierte er besonders heftig.
Meike schaute ihn spöttisch an und stemmte die Fäuste in die Seiten. »Ich hab gesagt: ›Das musst du gerade sagen, du Pa…‹«
» ICH HAB ALLES GESEHEN! «, brüllte Gieles, um ihn von Meike abzulenken. »Ich hab gesehen, wie du meine Gans umgebracht hast! Mein Vater hat die Videobänder …«
»Das Scheißvieh hat mich angegriffen!« Toon stand jetzt so nah vor ihm, dass Gieles seine feuchte Aussprache spürte. »Das hat mich wie verrückt gebissen mit seinem ekelhaften …«
»Arschloch! Du hast sie total zerfetzt!«
»Ja! Du Schwulenflüsterer!«, schrie Toon und schubste ihn. »Und das nächste Mal zerfetz ich deine anderen Scheißvögel!«
Gieles warf sein Fahrrad hin. Er hatte plötzlich keine Angst mehr, obwohl Toon ihm körperlich immer überlegen gewesen war. Aber jetzt hatte er selbst einen Vorteil, seine Wut, die noch unvergleichlich viel größer war als die von Toon. Sie brodelte in ihm wie kochendes Wasser, und es gab nur eine Möglichkeit, sie herauszulassen, über seine Fäuste. Meike brüllte Toon an. Es waren Beschimpfungen in ihrem Dialekt, die sie ihm wie Giftpfeile entgegenschleuderte, aber Gieles hörte sie kaum. Das Einzige, was er wahrnahm, waren Toons Kalbsfiletnase und sein fassungsloser Blick, als er ihm die Faust auf diese Nase knallte. Zeit zum Zurückschlagen blieb Toon nicht. Meike stürzte sich auf ihn und biss ihn in den Unterarm. Toon ächzte und riss an ihren Dreadlocks, während Gieles ihm in den Rücken sprang. Er nahm ihn in den Schwitzkasten. Einen Augenblick glaubte er Gänse auffliegen zu hören. Tausende von Gänsen, die zu ihren Brutgebieten wollten. Vor seinen Augen tanzten rotweiße Streifen, sie sahen aus wie das Flatterband, das die Gänse von den Grasflächen am Flughafen fernhalten sollte. Während er dieFingernägel in Toons Kopfhaut zu krallen versuchte, dachte er, wie klug Gänse doch waren. Nach einem Jahr wussten sie, dass die Flatterbänder keine Gefahr darstellten, sondern im Gegenteil das leckerste Gras markierten.
Aber was er hörte, waren keine Gänse. Es war Toons Tarnhose, die von Meike in Fetzen gerissen wurde. Und sein Vater, der angerannt kam.
30
Meike hatte weißblonde Stoppeln von höchstens einem Zentimeter Länge. Wenn Gieles nicht gewusst hätte, wer sie war, hätte er sie für ein Fotomodell gehalten. Ihr Schädel war vollkommen rund und makellos, abgesehen von ein paar kleinen Wunden auf der linken Seite. Dort hatte Toon ihr die Dreadlocks ausgerissen wie Unkraut. Sophia war es ähnlich ergangen, dachte Gieles. Als sie dem zusammengetretenen Belgier helfen wollte. Auch ihr hatte man die Haare büschelweise ausgerissen. Er würde Meike die Geschichte von Ide und Sophia zu lesen geben.
»Und?«, fragte Meike. Sie hatte sich mit dem Frisierstuhl umgedreht und schaute ihn unsicher an. Er setzte Wallie auf den von schwarzen Lämmerschwänzchen übersäten Boden. Wallie stöberte mit dem Schnabel darin herum.
»Gut«, sagte er.
»Gut?« Dolly verschränkte die Arme. »Da hast du eine echte Sahneschnitte vor dir und sagst ›gut‹? Bist du noch bei Trost?«
»Schön«, sagte er zögernd. Es gab noch eine Veränderung. Im Gesicht fehlte etwas. Etwas, das sehr gestört hatte.
»Dolly hat mich zurechtgemacht«, verkündete sie erwartungsvoll.
»Ich hab was abgemacht«, korrigierte Dolly. »Es ist ja viel mehr ab als drauf gekommen.«
Jetzt wusste er es. Die Träne war nicht mehr zu sehen. Meike weinte nicht mehr.
»Schön«, hörte er sich wiederholen und setzte sich unbeholfen auf die Rattanbank.
Dolly nahm ihren Gürtel mit Friseurwerkzeug ab. »Ich mussganz kurz noch was einkaufen, und danach fahr ich euch nach Hause. Machst du den Boden, Meike?«
»Ich fühl mich ’ne ganze Tonne leichter«, sagte Meike und schüttelte den Kopf. Barfuß watete sie durch die Überbleibsel. Ohne die Locken wirkte sie noch kleiner. Sie kehrte sie zusammen. Wallie folgte ihr. Nachdenklich starrte Meike den kleinen Haarberg an.
»Du bist doch Jungfrau?«
Sie schauten sich an.
»Dein Sternbild ist doch Jungfrau?«
»Ich glaube, ja«, antwortete Gieles und
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