Gleitflug
hatte er erwartet, dass Gieles sich freute oder sich Sorgen machte wegen der Kugel im Arm. Aber nicht dies. Willem wechselte einen Blick mit seinem Bruder.
»Ellen freut sich sehr darauf, Meike kennenzulernen«, sagte Onkel Fred fröhlich.
»Darum geht’s nicht! So war es einfach nicht abgesprochen. Sie wollte am 7. August ankommen!«
Er stand so abrupt auf, dass der Stuhl umfiel, und stampfte die Treppe hinauf.
Jetzt war er es, der sich einschloss. Er trat das Gänsespiel durchs Zimmer. Er trat gegen eine der schrägen Wände, bis sie eine Delle hatte. Er trat gegen das Brett mit dem Zeitplan. Dann legte er sich aufs Bett. Er ignorierte Onkel Fred, der ihn zum Essen rief. Nach ein paar Versuchen ließen sie ihn in Ruhe.
Er döste ein und wurde von Meikes aufgeregter Stimme geweckt. Sie kam von der Haustür her, aber was Meike sagte, konnte er nicht verstehen. Ihre hohen Töne wechselten sich mit tiefen, brummenden ab. Es war, als würde dort unten eine andere Sprache gesprochen, eine Ursprache. Er empfand es als angenehm, nichts zu verstehen. Langsam stand er auf und betrat den Flur.
Durch das kleine Dachfenster sah er Super Walings Elektromobil. Er wartete, bis alle im Wohnzimmer waren, und schlich lautlos die Treppe hinunter.
»Du musst wirklich mal mit zu einem meiner Leseclub-Abende«, hörte er Onkel Fred sagen. Gieles stellte sich vor, wie die anderen im Wohnzimmer saßen. Auf dem einen Sofa Onkel Fred, der freundlich plauderte, neben ihm sein schweigender Bruder. Auf dem anderen Super Waling, schwitzend, weil er ein kleines Stück zu Fuß gegangen war. Wahrscheinlich hockte Meike neben ihm und bearbeitete die Speckschicht seines Arms. Sein Fett schien sie zu faszinieren. Bei jeder Gelegenheit knetete und klopfte sie es wie eine Bäckerin Brotteig.
Gieles schlich weiter. Er wusste nicht, warum er schlich, vielleicht gehörte Schleichen einfach zu dieser ganzen beschissenen Situation. Aber in der Küche stand sein Vater, und er hatte ihn schon gesehen. Ein Rückzug war unmöglich.
»Es ist noch etwas vom Abendessen für dich da«, sagte Willem, während er Becher auf ein Tablett stellte. Gieles hatte ihn noch nie so oft das Tablett mit Kaffeebechern herumtragen sehen wie in den letzten Wochen. Aber sie hatten auch nie so viel Besuch gehabt.
»Ich esse lieber Brot.«
Willem ließ seine starken Arme sinken. Er stand ein bisschen schief, als würde er langsam umkippen.
»Waling ist da. Er hat ein Bild für Meike gebracht.«
»Weiß ich.« Gieles war sonst nie unhöflich zu seinem Vater, aber vielleicht gehörte auch Unhöflichkeit zu dieser Situation. Schweigend nahm er Butter und Wurst aus dem Kühlschrank. Die Rollen schienen vertauscht zu sein. Es machte sogar Spaß. Er goss sich Cola in ein Glas. Cola zum Essen, das war sonst undenkbar, aber sein Vater sagte nichts. Gieles tat, als wäre er allein. Er setzte sich, aß und las die Zeitung.
Aus dem Augenwinkel sah er, wie sein Vater die Hände hob. Es folgte ein Räuspern.
»Ich dachte, du würdest dich freuen, dass sie früher nach Hause kommt. Die Umstände könnten erfreulicher sein, aber sie hat überlebt. Die spanischen Ärzte, Juan und sein Kollege, sind erschossen worden.«
»Um wie viel Uhr ist sie da, und mit welchem Flug?«, fragte Gieles sachlich, ohne von der Zeitung aufzublicken.
»Am Nachmittag, etwa halb drei. Den Flug muss ich erst raussuchen.«
Gieles spürte den Blick seines Vaters, während er den Rest Cola trank und die letzte Scheibe Brot hinunterschlang.
»Kommst du auch kurz ins Wohnzimmer? Zu Waling?«
»Ich kann nicht. Muss noch lernen.«
Oben setzte er sich aufs Bett und starrte auf den Plan.
Er ging alles durch. Das Losfliegen und Landen war kein Problem, seit er den Schirm benutzte. Was das »Bleib« anging, warer unsicher. Blieben die Gänse wirklich, wo sie waren, wenn ein Flugzeug auf sie zugedonnert kam? Auch das, womit seine Geniale Rettungsaktion 3032 anfing, hatten sie nicht trainiert: auf Kommando über den Graben fliegen. Er musste Gelee und Spekulatius kaufen. Das war ganz wichtig.
Die Zeit war extrem knapp. Trotzdem konnte es klappen. Wenn er innerlich hart blieb. Emotionen durften ihn nicht aus dem Gleichgewicht bringen. Er musste sich ganz auf sein Ziel konzentrieren, sich konsequent vorbereiten, wie vor ein paar Jahren auf die Tischtenniswettkämpfe. Er musste allen aus dem Weg gehen. Mit »allen« meinte er Meike.
Nicht an Meike denken!
Nach rund einer Stunde Grübeln hörte er die Haustür
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