Gleitflug
standen Dutzende von Kuppelzelten um einen Wohnwagen herum, der in allen Farben des Regenbogens bemalt war. An Holzpfählen befestigten die Aktivisten Hängematten, ihre Kinder dekorierten die Zweige der Bäume mit Girlanden. Es sah toll aus, fand Gieles, der das Gelände erst gegen Abend zu erkunden wagte. Sein Freund Toon ging voraus.
Die Umweltschützer waren sehr nett. Sie gaben ihnen Limonade und Mandeltörtchen, und alle stellten ihnen Fragen. Wie oft Toon und Gieles im Wäldchen spielten, was sie von dem Flughafen hielten, ob sie oft krank seien oder stark husten müssten. Gieles grinste in sich hinein, als die Aktivisten das armselige Grüppchen Bäume mitten in der Wüste allen Ernstes als »unseren Wald« bezeichneten. Überall lagen graue Sandhaufen, zwischen denen sich Bulldozer und Kipplaster bewegten. Durch den riesigen Sandkasten gingen Männer in orangefarbenen Overalls, Notizbücher in den Händen. Der Bau der neuen Piste war schon in vollem Gang. Man wartete nur noch auf das Gerichtsurteil.
Jeden Tag besuchten andere Leute das Zeltlager. Onkel Fred sagte, es seien Prominente, und das musste stimmen, weil sie von Fotografen und Journalisten begleitet wurden. Alle erklärten, sie seien gegen den Bau der Startbahn. Als sie dann fertig war, hörte man nichts mehr von ihnen. Sie kamen auch nicht mehr her. Die Prominenten flogen jetzt hier über die Dächer.
In jenem Sommer war Gieles’ Haus x-mal im Fernsehen zu sehen gewesen. Immer wieder wollten Journalisten Onkel Freds Meinung dazu hören, dass nun bald Flugzeuge sozusagen in seinem Garten landen sollten.
»Man kann es ja doch nicht aufhalten«, erklärte er dann. Eigentlich war es auch nicht mehr sein Garten. Onkel Fred hatte sein Land dem Flughafen verkauft. Sein Haus stand auf der künftigen Bahn, also im Weg. Deshalb war er zur Familie seines Zwillingsbruders gezogen. Das war sowieso praktisch. Wenn Ellen flog, konnte sich Fred um Gieles und den Haushalt kümmern.
Gieles wusste, dass Onkel Fred den Journalisten keine klare Antwort gab. Onkel Fred war nie für oder gegen irgendetwas. Er sprach meistens in der man-Form, als gehe es nicht um ihn selbst. Alles nahm er, wie es kam. Sei ein Fluss, kein Berg, lautete sein Motto. Der Fluss war nett zu den Umweltschützern. Er brachte ihnen selbstgekochte Fenchelsuppe und Wurstbrötchen und ließ sie auf dem Hof duschen. Als es im Lager so eng wurde, dass die Spannseile der Zelte sich überkreuzten, bot er ihnen die Weide als zusätzlichen Zeltplatz an. So kam er auf die Idee mit dem Spotter -Camping.
Der Fluss war auch freundlich zu den Feinden der Aktivisten. Wenn die rot-weiß-blau gestreiften Wagen der Marechaussee auf dem Hof standen, weil es Sicherheitsprobleme zu besprechen gab, schenkte er den Beamten einen Beutel Kirschen. Und wenn Flughafenleute kamen, um über Lärmschutzmaßnahmen zu reden, bewirtete er sie mit Kaffee und Apfelkuchen.
Gieles hoffte damals von ganzem Herzen, dass die Umweltschützer nie wieder fortgehen würden. Er war nicht der Einzige. Auch die anderen Kinder aus seiner Gegend verbrachten den Sommer mehr im Zeltlager und im Wäldchen als zu Hause. Sie spielten Verstecken und tanzten wild zu Musik aus dem Rinky Dink, einer umweltfreundlichen Anlage, die von Solarzellen und einem Fahrradgenerator angetrieben wurde. Von einem Mann mit Zöpfchen im roten Bart lernte Gieles, wie man aus Bambusstöcken ein Zelt baute. Er bemalte Blätter aus Holz, die an einen eisernen Baum gehängt wurden. Ab und zu aß er imLager mit, zum Beispiel zerkochte Bohnen aus großen Töpfen. Gegessen wurde an langen, schmalen Tischen, und manchmal wurde dabei so heftig diskutiert, dass Gieles befürchtete, die Leute würden gleich aufeinander losgehen. Er hörte Wörter, die er noch nicht kannte, wie Freistaat, Mafia, Räumungsbeschluss, Blockade. Und er lernte eine reiche Auswahl an Beleidigungen kennen. Affenarsch und Zicke waren ihm vertraut. Aber Wichser, Vollsocke, Pissnelke und Siffkopf waren damals neu für ihn. Vor allem sein Freund Toon war ganz heiß auf die Schimpfwörter.
Wenn seine Mutter aus dem Ausland zurückkam, schaute sie sich im Zeltlager um. Manchmal noch in Uniform. Die Umweltschützer waren freundlich zu Ellen. Niemand störte sich an ihrem Stewardessenkostüm. Gieles hatte sogar das Gefühl, dass die Männer im Lager mit ihr flirteten.
Abends starrte Gieles durch sein Dachfenster auf das Zeltlager, solange er die Augen offen halten konnte. Einige der Bewohner saßen rund
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