Gleitflug
Sachen gehen gut, manche Sachen gehen nicht gut. Die gute Sache: Die kleine Gans hat einen Namen, Walli. Ihr Spiel des Tischtennis macht eine große Entwicklung! Die nicht gute Sache: Die große Gans frisst immer noch übertrieben, aber sie zeigt sich auch aggressiv. Das ist neu. Sie attackiert Gäste auf dem Campingplatz. Das war einmal, aber mein Vater sagt, das letzte Mal. Er sagt: Zeigen von Aggression darf nicht mehr passieren. Die große Gans ahnt, dass sie ein Raubtier ist. Sie schleicht über die Erde wie ein Tiger. Ist meine Gans gefährlich? Ich ahne nicht. Aber sie ist verlässlich gestört. Als Beispiel, gestern hat sie den Rasen attackiert. Der ist nun wie Käse mit Löchern. Und sie bellt gegen den Briefträger. Ich habe Sorge. Können Sie die Situation lösen? Haben Sie eine gute Anweisung?
Gieles kam nicht mehr darum herum. Johan hatte ihn immer wieder gedrängt, sich seine Sammlung von Flugzeugunglücken anzusehen. Jetzt saßen sie nebeneinander an einem ovalen Campingtisch, auf dem die Alben lagen. Unter dem Tisch döste Wallie. Der Stapel war beeindruckend, hoffentlich wollte ihm der alte Mann nicht wirklich alles zeigen.
Judith brachte Tee und eine Schale Bokkenpootjes. Sie hatte das Hütchen mit den Plastikblumen auf.
»Hast du schon Sommerferien?«, fragte sie und schaute Gieles mit ihren mädchenhaften Augen an.
»Nein, erst in fünf Wochen.«
»Ach, Sommerferien. Wie wenn es gestern gewesen wäre. Jedes Mal habe ich gehofft, sie würden nie zu Ende gehen.«
»Judith«, sagte ihr Mann in einem Ton, als habe er wichtige Männerangelegenheiten zu besprechen, »du störst.«
Erst nachdem sie im Airstream verschwunden war und die Tür hinter sich geschlossen hatte, redete Johan weiter. Er räusperte sich und sagte: »Fangen wir am Anfang an.« Er griff in eine Tasche der wattierten Weste und zog eine Lesebrille heraus.
»Am 13. Oktober 1972, um genau zu sein.«
Er nahm das oberste Album, auf dem in sauberer Handschrift 1972-1976 stand, hielt es wie ein wertvolles Buch in der Hand und begann in feierlichem Ton zu sprechen. »Das war der Tag, an dem eine ganze Rugbymannschaft mit Verwandten und Freunden in den Anden abstürzte. Mit einer Fairchild FH -227 D der Luftwaffe von Uruguay. Schon acht Tage später wurde die Suche nach den armen Teufeln eingestellt.«
Johan legte das Album auf den Tisch, schlug es auf und zeigte Gieles die Zeitungsausschnitte.
»Sie hatten nur noch das halbe Flugzeug. Ansonsten gab es dort in der großen Höhe nichts, aber auch gar nichts. Nur Eis. Na ja, wer kennt die Geschichte nicht? Die Überlebenden haben von den Toten gegessen. Und das waren nicht irgendwelche Unbekannten, sondern ihre Mannschaftskameraden, Verwandten, Freunde. Sie waren mit den Menschen vertraut, deren Fleisch sie aßen.«
Er zeigte auf einen kleinen Aufkleber mit dem Umriss einer Filmkamera. »Dieses Symbol habe ich bei allen Crashs eingeklebt, über die es Filme gibt. Hast du den Film Überleben gesehen, Gerard?«
Gieles wusste weder von dem Film noch von dem Absturz. »Ich glaube, ja«, log er.
Der Mann schaute einen Moment in die Luft und wandte sich dann wieder Gieles zu. » Überleben habe ich sicher hundertmal gesehen. Und jedes Mal habe ich mir die Frage gestellt: Hätte ich es auch getan?«
Er packte Gieles’ Handgelenk und fuhr leise fort: »Meine Freunde essen. Fleisch aus ihren toten Gliedmaßen herausschneiden und es halb gefroren hinunterwürgen.«
Johan knirschte mit seinem großen Gebiss. »Sie konnten kein Feuer machen. Über zwei Monate lang hatten sie überhaupt nichts. Nur die Toten. Was hättest du getan, Gerard?«
Gieles versuchte, sein Handgelenk möglichst unauffällig aus Johans Griff zu befreien. Was sollte er bloß antworten? Die Vorstellung, jemanden wie Toon zu essen, war einfach ekelhaft. Er dachte an die Notwasserung auf dem Hudson. » What would Sully do? «
Johan runzelte die Stirn und ließ Gieles’ Handgelenk los.
»Captain Sully, von Flug 1549. Was würde Sully tun?«
»Verstehe schon, verstehe schon«, brummte Johan. »Ich kann auch Fremdsprachen. Captain Sullenberger hätte seine Crew gegessen, um zu überleben. Er gehört zu den Menschen, die überleben. Genau wie ich. Ich habe den Krieg überlebt.«
Mit diesen Worten war der Absturz in den Anden für ihn abgehakt. Er blätterte ein paar vollgeklebte Seiten weiter und erzählte von Eastern-Air-Lines-Flug 401, einer Lockheed TriStar, die am 29. Dezember 1972 in die Everglades gestürzt war,
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