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Gleitflug

Gleitflug

Titel: Gleitflug Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne-Gine Goemans
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mitten in die Alligatorensümpfe. Er beugte sich über sein Album wie ein alter Löwe, der seine Beute verteidigen will.
    »Es war ein Pilotenfehler, ein CFIT , Controlled flight into terrain. Hundertundeins Tote, fünfundsiebzig Verletzte.«
    Unruhig rutschte Gieles auf dem Gartenstuhl mit dem Hartman-Logo hin und her. Es konnte noch verdammt lange dauern.
    »In den Jahren nach dem Unglück haben Crewmitglieder von anderen Eastern-Air-Lines-Maschinen immer wieder behauptet, zwei ums Leben gekommene Männer der Flug-401-Besatzung würden ihnen als Geister erscheinen, um sie zu warnen.« Johan lächelte verschmitzt.
    Gieles war nur halb bei der Sache. Auf einmal hörte er Kinderstimmen. Er richtete sich auf.
    »Was natürlich Blödsinn war, aber Amerikaner sind sehr anfällig für Hokuspokusgeschichten. Ein hysterisches Volk. Das sieht man schon an all den lächerlichen Sicherheitskontrollen und Anti-Terror-Maßnahmen. Aber immerhin gibt es zu diesem Crash ein paar interessante Filme. Die habe ich selbstverständlich …«
    »Ich muss jetzt gehen«, unterbrach ihn Gieles. »Ich hab dem Sohn einer Nachbarin versprochen, dass ich mit seiner Klasse in das Wäldchen im Exil gehe. Da hinten«, erklärte er.
    Skiq hatte so lange gebettelt, bis er eingewilligt hatte. Gieles war auf derselben Grundschule gewesen, und auch er war damals mit seiner Klasse ins Wäldchen gegangen, um tote Äste und Müll wegzuräumen.
    »Wir haben doch gerade erst angefangen«, protestierte Johan. Er versuchte gar nicht, seine Enttäuschung zu verbergen.
    »Tut mir leid.« Gieles stand auf.
    Deprimiert klappte Johan das Album zu. »Aber wir machen ein anderes Mal weiter. Abgemacht, Gerard?«
    »Abgemacht.«
    »Morgen?«
    »Morgen ist schlecht. Die ganze Woche eigentlich. Ich muss einen Aufsatz fertig schreiben. Aber danach könnte es gehen, glaube ich.«
    Er schaute unter den Tisch. Wallie schlief noch, sie hatte den Hals elegant auf den Rücken gelegt und den Kopf halb unter den Flügeln versteckt. Man hörte die Kinder näherkommen. Ihre Stimmen waren schrill wie die von jungen Staren.
    Wallie blieb bei dem enttäuschten Johan zurück. Die anderen drei Gänse waren unruhig. Tufted und Bufted watschelten schnatternd über den Hof. Wallies große Schwester rührte sich nicht vom Fleck, sie drehte nur Hals und Kopf wie das Periskopeines U-Bootes. Konzentriert beobachtete sie die Umgebung. Mit dem gereckten Hals schien sie einen Meter groß zu sein.
    Gieles ließ sie nicht aus den Augen, während er zur Straße ging. Die Klasse näherte sich, vorn die Lehrerin, dahinter die Schüler in Zweierreihen. Die Gans senkte den Kopf fast bis auf den Boden und schlich auf sie zu. Sie fauchte. Gieles fauchte zurück.
    »Gieles! Hier bin ich!«, hörte er Skiq rufen.
    Die Gans und Gieles blickten sich an, bis sie sich wegdrehte und abzog.
    Skiq kam angerannt und umklammerte Gieles wie einen kostbaren Besitz.
    »Jetzt muss ich natürlich sagen: Gieles, was bist du groß geworden«, sagte die Lehrerin.
    Es war Barbara. Er hatte sie von der vierten bis zur sechsten Klasse gehabt. Je weiter der Flughafen sich ausdehnte, desto weniger Kinder gab es auf der Grundschule. Barbara wirkte auf ihn jünger als vor zwei Jahren, als er die Schule gewechselt hatte. Es kam ihm schon vor wie in einem anderen Leben.
    »Dann lass Gieles mal wieder los«, sagte sie zu Skiq. »Du zerquetschst ihn ja.«
    Gieles ging nun zwischen der Lehrerin und Skiq. Vierzehn Jungen und Mädchen hüpften hinter ihnen her.
    Barbara fragte, wie es ihm gehe, erkundigte sich dann nach seiner Mutter. »Ich fand sie immer schon sehr mutig. Menschen zu helfen, auch wenn man sich selbst dadurch in Gefahr bringt. Du bist bestimmt stolz auf sie.«
    »Ja«, sagte er halbherzig. Er war stolz auf sie, aber sie hatte sich verändert. Wenn sie zu Hause war, wurden viele Kleinigkeiten plötzlich zum Problem. Wenn er ein Butterbrot mit Hagelslag bestreute, war es auf einmal zu viel Hagelslag. Sie sagte zwar nicht: »Das ist zu viel.« Wie sie auch nicht »Iss deinen Teller leer« sagte. Nie. Aber mit ihrem Blick und ihren Augenbrauen,die sich vielsagend hoben, konnte sie eine ganze Predigt halten.
    Am Schluss der Reihe wurde es laut. »Ooch, wie süß«, riefen ein paar Kinder, und: »Kuck mal! Eine kleine Gans!«
    Wallie war auf der Suche nach Gieles. Als sie ihn entdeckte, begann sie zu schnattern und stolperte über ihre eigenen Schwimmfüße. Die Kinder lachten. Die kleine Gans schmiegte sich an Gieles’

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