Glencoe - Historischer Roman
Hilfe. Hab keine Angst.
Sandy Og war vielleicht einen Herzschlag lang eingeschlafen. Was hatte ihn geweckt? Kein Geräusch, denn sonst wäre Sarah vor ihm erwacht, keine Schritte, kein Klappern einer Tür. Dennoch war er, noch ehe er ganz bei sich war, sicher, dass das Haus nicht länger voller schlafender Menschen war. Er war mit Jean und Sarah allein.
Im Aufspringen raffte er seine Kleider an sich. Die Tür der Soldaten stand offen, doch dafür verschwendete Sandy Og kaum einen Blick. Ganz kurz standen sein Herz, sein Puls, sein Atem still, dann sah er, was er ohnehin gewusst hatte, aber es zu sehen war unendlich entsetzlicher. Seine Jungen, sein Sohn Duncan mit den Sternenaugen und der getreue Angus, waren nicht mehr da.
Sandy Ogs Hände, seine Beine, alles tat ohne seine Hilfe, was nötig war. Er zog die Kleider über, hob die Waffe aus der Truhe, riss die Tür auf und stürmte in die Nacht. Die war noch immer vom Tosen des Sturms erfüllt, aber etwas hatte sich verändert. Sandy Og hätte beide Ohren gebraucht, um es zu hören, die falschen Töne im Lied des Windes zu bestimmen, doch er hatte nicht nur keine zwei Ohren, sondern vor allem keine Zeit. Welche Richtung sollte er einschlagen? Wer in Glencoe nicht wusste, wo er hinzugehen hatte, ging nach Carnoch, und auch die Jungen waren gewiss nach Carnoch gelaufen, zur Hauptwache der Soldaten. Er wollte sie packen und schütteln, sie schlagen, jedes Glied an ihren Körpern fühlen. In Sprüngen, nicht in Schritten rannte er. John hatte recht: Die Nacht war viel heller als gewöhnlich, sie war blendend hell.
John.
Zum zweiten Mal in dieser Nacht stand der Bruder vor ihm, als hätte er ihn beschworen. Er vertrat ihm den Weg, sodass Sandy Og um ein Haar gegen ihn geprallt wäre. »Ich wollte dich wecken!«, schrie er unter schnaufenden Atemzügen. »Ich habe was gehört: Geschrei und Gepolter, auch Schüsse, glaub ich.«
»John«, schrie Sandy Og zurück und konnte sich nicht hindern, dabei den Bruder aus dem Weg zu drängen, »John, meine Jungen sind weg!« Es auszusprechen drehte ihm Herz und Hals um. Er wollte keine Kraft verlieren, nicht Duncan vor Augen sehen, Duncans Gesicht, um das sich seine Hände legten, das winzige, vollkommene Abbild eines Menschen. Duncan, dem der Wind am Haar riss, dicht und dunkelblond wie Sarahs Haar, und der, so klein er war, das ernste Gesicht seiner Mutter zog. Duncan, der an seiner Hand laufen lernte. Sein Sohn Duncan, feuchtes Haar und Gras und Kinderschweiß. Von dem Augenblick, da du mir aus Blut und Schmerz in die Hände fielst, habe ich um deinetwillen gelernt, was Furcht und Sehnsucht sind, habe ich um deinetwillen meinen Tropfen Seligkeit getrunken, habe ich dich geliebt.
Er wollte vernünftig sein und sich versichern, dass keine Gefahr drohte, dass alles nur ein törichter Jungenstreich war, der den beiden eine Verkühlung und eine Tracht Prügel einbringen würde und zur Schmelze vergessen war. Aber John und Sandy Og, die wie von Teufeln gehetzt durch den Schnee jagten, wussten beide, dass nichts bis zur Schmelze vergessen sein würde und auch nicht zur nächsten Schmelze und nicht danach. Für törichte Jungenstreiche war in dieser Nacht kein Platz.
Die zwei Männer rannten, bis sie hinter der Flussbiegung das Feuer sahen, die grelle Lohe, die sich ins Schwarz und Weiß des Himmels fraß.
Sandy Og ließ John hinter sich. Eine irrsinnige Kraft hatte ihn gepackt und schleuderte ihn voran, nicht auf das brennende Haus zu, sondern auf das, was davor im Schnee lag. Sandy Og sah etwas Schwarzes – und etwas Rotes, das schon verlief, verblasste und im Schnee verschwand. Der Schrei, der aus ihm brach, sprengte ihm die Rippen. Riss nicht ab. Er fiel auf die Knie und warf sich vornüber, spürte an seinem Körper Schnee, Erde, Haut, nassen Stoff, weiches Haar, die Formen von Gesichtern, die Formen ihrer Schultern, Arme, Hände. Die Kälte. Wärme, von der nichts mehr übrig war. In die Nacht hineinhörte er sich heulen, als wäre er nicht einer, sondern hundert, als wäre er das ganze Tal.
Ceana. Meine kleine Schwester. Wie du gelacht hast, als das Tamburin schlug. Wie du auf Erbsen hüpfen konntest. Auf deiner Hochzeit wollte ich mit dir tanzen. Angus, Angus, Angus! Kleine rote Lerche mit den goldenen Flügeln! Warum hab ich dir nicht erzählt, wie dein Vater gesungen hat? Dein Lied und sein Lied. Als wär’s das letzte Lied der Welt.
Er presste sie an sich. Eins nach dem andern. Küsste ihre Gesichter, küsste sie
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