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Glencoe - Historischer Roman

Titel: Glencoe - Historischer Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charlotte Lyne
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glotzte ihn an. »Was meint der? Wovon spricht denn der?«, stammelte er, den Speisebrei mühsam in seine Backentaschen drückend.
    »Ist er tot?« Calums Krallenhand packte ihn am Arm. Die Frauen standen hilflos herum. Sie hätten den Mann, der für sie durch die Nacht geritten war, gern beschützt, aber den Uralten wegzustoßen brachte Unheil, als stieße man sein Schicksal weg.
    »Lass gut sein, hol dir einen Becher Wein!«, rief Gormal zu dem Alten hinüber.
    Calum jedoch beachtete sie nicht. »Sag’s schon, sag’s schon. Ist der Rote tot?«
    Als Lady Morag herumfuhr, wirkte ihr sonst wie versteinertes Gesicht zerbröckelt. »Gibst du nie Ruhe?« Es war das erste Mal, dass Sarah sie schreien hörte. »Ist für dich Vergangenes nie vergangen? Rechnet dein kranker Kopf ein Leben lang auf?«
    Eine der Frauen kam ihr zu Hilfe: Ceana, die trotz aller Erregung sittsam und sauber blieb, das Hemd blütenweiß und das Haar zum Zopf geflochten. Wie ein Hündchen hoppelte ihr ein Lamm hinterdrein. Sie schnappte sich den Uralten, als sei der ein Kind, und zog ihn hoch. » Wer soll tot sein, Calum?«, fragte sie. »Vater MacIain?«
    Mit offenem Mund stierte Calum sie an und nickte.
    »Er lebt«, sagte Ceana. »Wir feiern, weil er einen großen Sieg für den Clan errungen hat. Du kannst Beerenwein haben, wenn du magst.« Sie sagte es, als spräche sie etwas in fremder Sprache nach, doch der Alte ließ sich willig beiseiteführen. Als sie sich abwandten, sah Sarah in Ceanas Gesicht. Es war nass von Tränen.
    Schon hatte Lady Glencoe sich wieder gefangen. Mit straffem Rücken stand sie da, als sei der Zwischenfall vergessen. »Wir singen das Lied«, gebot sie dem Haufen. »Colins Rinder, meinem Herzen so lieb.«
    In einem Herzschlag wichen Furcht und Aufruhr einer müden Traurigkeit. Wie es Brauch war, würden die Witwen der Gefallenen in die Berge gehen und ihren Toten das Lied noch einmal singen, sobald sie Gewissheit hatten. Einst hatte Sarah Sandy Og gefragt, warum die aus Glencoe zu jedem Anlass dieses Lied sangen, und er hatte es ihr auf seine verlegene Sandy-Og-Weise erzählt. Sie hörte seine Stimme wie ein Echo:
    Muss ich das wirklich sagen? Ich fürchte, es ist ein Lied darüber, wie wir einmal Rinder aus Glenlyon stahlen.
    Ihr stehlt doch immer Rinder aus Glenlyon.
    Sie hatte gelacht, und als er sicher war, dass sie ihm nichts übel nehmen würde, hatte auch er gelacht und sie gebeten: Sag nicht »ihr«, Sarah. Sag »wir«. Wir stehlen doch immer Rinder aus Glenlyon und singen dieses Lied.
    Aber ich stehle keine Rinder, und das Lied sing ich nie mit.
    Das macht nichts. Was einer aus Glencoe tut, tun wir alle.
    Sarah würde nie begreifen, warum ihnen das bisschen kostbare Sprache abhandengekommen war und warum sie es zugelassen hatten. Die Übrigen sangen, dass Colins Rinder ihnen von Herzen lieb wären und in den Heidehügeln Milch gäben, dass die Sängerin aber dennoch keinen Schlaf fände, bis der, auf den sie wartete, wiederkäme.
    Colins Rinder sind schön,
    Colins Rinder sind stattlich,
    Ich aber hab einen Schmerz in meiner Brust
    Und meine Augen sind voll Tränen.
    Auch Ceana sang nicht mit. Sie half dem uralten Calum beim Trinken, ihr Gesicht nass und unbewegt.

    Sie trugen die Toten nach Blair, ihren in Plaids gewickelten Feldherrn voran. Ewen Cameron und Sandy Og MacDonald ritten im Klang der Pfeifen nebeneinanderher und teilten das Schweigen von Männern, die sich etwas zu sagen haben, aber den Mut dazu nicht finden. Lochiel ist ja sonst keiner, der sich den Schneid abkaufen lässt, hoffte Sandy Og, aber je länger sie ritten, desto gewisser wurde, dass der Ältere nicht sprechen würde. Vielleicht gehörte es zu den Gesetzen der neuen Zeit, dass ein feiger Mann auf sich nehmen musste, was vom mutigen zu viel verlangt war.
    Ich habe noch Zeit, versuchte Sandy Og sich zu beruhigen. Der Zug bewegte sich nur langsam vorwärts und erreichte die Festung erst am frühen Abend. Es war ein honigsüßer Sommertag, die durchzirpte Luft schon voller Zeichen der Reife; an Tagen wie diesem merkte man nie, dass die Ernte schlecht werden würde. Sandy Og hätte gern Colins Rinder gesungen, wie sie es in Glencoes Bergen taten, wenn jemand gestorben war. Die Hälfte der Männer, die sie aus Glencoe nach Dalcomera geführt hatten, lebte nicht mehr: die goldblonden Brüder Larroch, der dicke Tam Henderson, sein Schwager, der freundliche James von Achtriachtan. Sie hätten das Lied gebraucht, doch ihre Mädchen und Mütter

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